» Nachdenken über Filme von Fred Kelemen | Text: Erika Richter
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Nachdenken über Filme von Fred Kelemen
Es ist ein dunkler Zauber um die Filme Fred Kelemens, der Kritiker und Filmliebhaber in verschiedenen Teilen der Welt immer wieder fasziniert. Über »Verhängnis«, Kelemens ersten Film, im Rahmen der dffb entstanden, 1995 mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet, schrieb etwa Jens Jessen:»....Tatsächlich aber ist Kelemens Film experimentell und trotzdem großartig, wahrscheinlich genial..... Der seltsam malerisch-impressionistische, fast pointillistische Effekt, der durch die rücksichtslose Vergrößerung von Videomaterial auf Kinoformat entsteht, entfaltet seine suggestive Wirksamkeit schon mit den ersten Bildern, die eigentlich noch dokumentarischer Natur sind ... Wie die Drogensüchtigen, die Invaliden und Asylanten schwanken, wie sie lachen, wie ihre Augen sich furchtsam verschleiern oder weiten, es ist ein Tanz, es ist mit einer Videohandkamera aus dem Alltag gegriffen, und wirkt doch als Choreographie des torkelnden, blinden, blind-frohen, blind-angstvollen Menschenlebens...«(FAZ, 9.2.96) Susan Sontag nannte in ihrem berühmten Aufsatz »The decay of Cinema« (1996) »Verhängnis« als eines der wenigen Beispiele authentischen zeitgenössischen Films und beschrieb diesen Film anläßlich seiner dreiwöchigen Präsentation in New York 1996 als »einzigartige visionäre Leistung«. Über Kelemens zweiten Film »Frost« äußerte Thomas Rothschild: »Kelemen ist seiner Methode, die er mit seinem atemberaubenden »Verhängnis« von 1994 entwickelte, ohne Abstriche treu geblieben... Seine Irrfahrt einer Mutter mit ihrem Sohn durch ein unwirtliches Deutschland ist eine Zumutung, wie alle große Kunst Zumutung ist.« (Stuttgarter Zeitung, 24.2.97) Die Anthology Film Archives/ New York nennen »Frost« anläßlich der Retrospektive Fred Kelemens im Januar 2003 ein »Wahrzeichen des europäischen Films der späten 90er Jahre«, und über »Abendland« schreibt Kevin Murphy im selben Zusammenhang: »... einer der schönsten, vielschichtigsten und beunruhigendsten Filme, die ich je gesehen habe. (...) Ich habe es noch nie erlebt, daß sich eine Erzählung so meisterhaft in langen Einstellungen entfaltet und gab mich den visuellen und erzählerischen Wanderungen von Fred Kelemens Kamera absolut hin. Ich betrachte diesen Film als ein verstörendes, zartes und sublimes Meisterwerk.« (»Filmmaker Magazin«, New York Januar 2003)

Worin besteht die Faszination dieser Filme?
Ich denke, in ihrer Kompromißlosigkeit. Die »Helden« in Kelemens Filmen - ein russisches Paar im Berlin der 90er Jahre (»Verhängnis«), eine Mutter, die mit ihrem Kind am Weihnachtsabend vor dem trunksüchtigen und gewalttätigen Ehemann an den Ort ihrer Kindheit in der ehemaligen DDR flüchtet (»Frost«), der Arbeitslose Anton und seine Frau Leni, die als Büglerin arbeitet, deren Beziehung in die Krise geraten ist (»Abendland«) - leben am unteren Rand der Gesellschaft. Ihr Kampf ums Überleben ist hart, hat in jedem von ihnen Spuren des moralischen Verschleißes und der Abnützung hinterlassen. Ihren Schicksalen geht Kelemen auf den Grund, aber so, wie nur Film das kann, durch Bilder, Licht und Schatten, Rhythmus, durch die Bewegung der Kamera, die Länge der Einstellungen, die Art des verwendeten Filmmaterials. Geredet wird wenig. Obwohl die Kamera die Menschen nur von außen zeigen, ihre Physis abbilden, ihre Bewegungen in Räumen, Straßen, auf Plätzen etc. verfolgen kann, wird uns durch die Art der filmischen Erzählweise - und das eben ist das Geheimnis - die Fähigkeit vermittelt, in ihre Seelen zu blicken, ihre Leiden und Sehnsüchte mitzuempfinden, ihre Schwäche, ihr Versagen, ihre Kraft. Ihr Alltag wird vorurteilslos beschrieben, aber es sind keine Zustandsschilderungen. Ein besonderes Ereignis oder eine Kette schlimmer Erfahrungen durchbrechen das Gleichmaß des alltäglichen Lebens, verdichten das Gewohnte und lassen uns so die tragische Dimension dieser Lebensverläufe erfahren, nein erleiden. Es gibt keinen einfachen Trost in diesen Filmen. Aber die Magie des filmischen Erzählens, die Schönheit des Lichts, die gänzlich unverbrauchte Ausdruckskraft der Bilder, der Kamerastandpunkte oder -bewegungen gibt diesen »gewöhnlichen« Menschen und ihren Schicksalen eine außerordentliche Eindringlichkeit, verleiht ihnen in all ihrem Versagen und ihren Zerrissenheiten Würde, Respekt und letztlich Schönheit. Die Schmerzlichkeit unserer Erfahrungen mit diesen Menschen verbindet sich mit einem außerordentlichen Genuß. »Ein vollkommen ungewohnter Rhythmus ist das, den man kaum ertragen könnte, wäre nicht jedes Bild dieses Films eine Offenbarung von Schönheit, von Wärme inmitten der polaren Trostlosigkeit dieses Lebens.« (Peter W. Jansen über »Frost«, Badische Zeitung, 25.2. 97) Die auf einfachste Vorgänge reduzierten Geschichten dieser Menschen haben die Kraft, uns mit archaischer Wucht zu berühren. Ihre Erfahrungen gehen weit über einzelne Vorgänge hinaus und lassen uns die Möglichkeiten des Menschen oder vielmehr des Menschlichen in unserer grausamen Gesellschaft paradigmatisch erleben, nicht theoretisch, nicht philosophisch, sondern sinnlich-konkret. Wenn Anton (»Abendland«) dem verzweifelten Vater das geschändete und getötete Kind auf seinen Armen bringt, spüren wir bis ins Herz hinein, daß er mit dieser Liebestat seinen eigenen Panzer der Härte, Kälte, Liebesunfähigkeit durchbrochen hat und wieder zur Liebe fähig wurde und daß Liebe vielleicht das Einzige ist, das uns alle in dieser Welt noch retten kann. Dieser metaphysische Aspekt, der allen Filmen Fred Kelemens immanent ist, erschüttert uns. Die alten Griechen nannten das Katharsis. Dadurch vermögen wir in den Figuren der Filme uns selbst zu erkennen, unsere Angst, unser Ausgeliefertsein in dieser Welt - wenn wir denn gewillt sind, uns selbst klar ins Auge zu sehen, zuzugeben, daß unser Dasein unsicher, unsere Zukunft fragwürdig, daß unsere Lebensprobleme ungelöst sind. Wer sich diesen Bildern überlassen kann, die einen sogartig mit ihrem Zauber umfangen, wird in den melancholischen Filmen Fred Kelemens, dieses »kompromißlosesten deutschen Regisseurs seiner Generation« (J. Hoberman, The Village Voice, New York, 8. Januar 2003), sein eigenes Ich in allen seinen Facetten wiedererkennen und letztendlich seine eigenen Überlebenskräfte gekräftigt finden. Diese Filme reinigen die Seele.

Fred Kelemen ist überzeugt davon, daß Film als die Kunst des 20. Jahrhunderts den anderen Künsten gleichgestellt ist und daß der Filmkunst wie den klassischen Künsten die Verpflichtung auferlegt ist, auf die moralische und psychische Hygiene einer Gesellschaft hinzuwirken. Er versteht Kunst und Kultur als geistig-seelischen Bereich einer Gesellschaft und hält diesen, bei Strafe des Untergangs, des Absturzes in die Barbarei, für überlebensnotwendig.

Über seine Arbeit sagt er u.a.: »Ich habe das Bedürfnis, nur über Dinge zu reden, die ich weiß, den Bereich von Spekulation auszuklammern und nur von Menschen zu erzählen und von ihrem Leben, und zwar so einfach, so klar und so wahrhaftig wie möglich.... Weil ich den Menschen noch immer als ein großes Geheimnis empfinde. Es lohnt sich, sich über Menschen Gedanken zu machen und über sie zu reflektieren. Wir wissen: >Vieles ist unheimlich, aber nichts ist unheimlicher als der Mensch<. Und das interessiert mich. Von Menschen zu erzählen, ist für mich wichtiger, als eine Geschichte zu erzählen. Die Menschen zu Werkzeugen der Geschichte zu machen, damit der Plot funktioniert etc., finde ich albern. Das bedeutet eine Verflachung des Menschlichen. Menschen sind nicht Diener von Geschichten.....« und weiter: »Ich zeige in meinen Filmen nicht Dinge, von denen ich glaube, daß sie gut sind, sondern von denen ich weiß, daß sie als existentielle menschliche Probleme vorhanden sind. Das zu beschreiben, zu versuchen herauszubekommen, was der Mensch ist, kann eine wichtige Aufgabe für eine Kunst wie den Film sein. ... Über die Kunst versucht sich der Mensch selbst zu verstehen und sich dadurch weniger unheimlich zu werden. Allein schon der Handabdruck in der steinzeitlichen Höhle von Lascaux ist der Versuch einer Selbstvergewisserung. Das kann auch Film leisten. Ich begreife Film als eine Möglichkeit, genau das zu tun. Das ist nichts weiter als Höhlenmalerei. Meine Filme sind Bildnisse des Menschen.« (Film ist Höhlenmalerei, Mit Fred Kelemen sprach Erika Richter, apropos: Film 2002, Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung)

Fred Kelemen befaßte sich nach dem Abitur mit Malerei und Musik, arbeitete als Regieassistent an verschiedenen Theatern, studierte Philosophie, Religions- und Theaterwissenschaften und begann 1989 sein Studium an der Berliner Film- und Fernsehakademie (dffb), das er mit »Verhängnis« abschloß. Er arbeitete auch als Kameramann für andere Regisseure und inszenierte am Theater.

Es ist dringend notwendig für unsere Gesellschaft, daß es Filme wie die Fred Kelemens gibt, daß sie in der Öffentlichkeit präsent sind und daß sie auch immer weiter entstehen können. Ich hoffe sehr und warte dringend darauf, daß Fred Kelemen für seine anstehenden Projekte endlich die notwendigen ökonomischen Realisierungschancen erhält.
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