» Filmbulletin | März 2004 | Text: Peter W. Jansen
..............................................................................................................................................................

» Download Text as PDF
..............................................................................................................................................................

Die Nacht, die Sterne, der Mensch. Die Filme des Fred Kelemen

Was ist schon ein Mensch neben einem Stern? - Alles.
(Abendland)

Grobes Korn auf der Leinwand, angeschmutzte Farben, keine glatten, keine heilen Bilder, keine heile Welt. Diffuser Strassenlärm, nah oder im Mittelgrund oder von fern. Ein heruntergekommenes Viertel, Slum. Eine offenbar betrunkene Frau, die auf der Strasse singt und tanzt, eine andere mit Kopftuch, eine dritte mit merkwürdigem Hut, die, zahnlos, wie es scheint, an einem Stück Brot lutscht. Alte oder frühzeitig gealterte Männer, mit tief gefurchten Gesichtern, in einem Zugabteil oder wieder auf der Strasse, einer mit Schirmmütze und Brille, ein anderer mit Pelzmütze, wie aus einem kaukasischen Ambiente; sein Blick ist starr, er regt sich kaum. Alle bewegen sich unendlich langsam. Wie im Traum. Ein jüngerer Mann, vielleicht um die dreissig, sitzt auf den Stufen des Durchgangs eines Bahnhofs. Im Hintergrund hört man die Züge fahren, sieht man die Beine, die Füsse von Vorbeihastenden oder den Borstenbesen der Stadtreinigung. Auf einem Akkordeon, das er auf den Knien hält, spielt der Mann auf den Stufen den langsamen melancholischen Tango, den man von Anfang an gehört hat. Es sind immer wieder dieselben zehn oder zwölf Takte, aber sie klingen immer wieder neu, weil Rhythmus und Lautstärke, dann auch die Tonart wechseln. Das geht viele Minuten lang. So lange jedenfalls, bis man nicht mehr möchte, dass das Akkordeon zu spielen aufhört, und, bitte, dieselbe Melodie, nur nichts anderes, man könnte süchtig danach werden. Man wird diesen russischen Tango noch hören, lange, nachdem der Film zuende gegangen ist.

Mit den ersten Einstellungen seines ersten langen Spielfilms VERHÄNGNIS hat Fred Kelemen allen seinen bisherigen Filmen das Vorzeichen gesetzt und die Strategie vorgegeben: der Zauber ist eröffnet. Immer wieder wird die Magie sich über die Dauer, ja Insistenz, über Dunkelheit, das claire-obscure, das Diffuse, die Unreinheit der Bilder vermitteln, immer wieder über die Geräusche, die Töne oft von irgend woher, Menschenlärm, Strassenlärm, Fabriklärm, Hundegebell; oder der Wind, oder ein Hubschrauber. Dieser Zauber wird hungrig machen nach Zeit, die in den Bildern und Tönen wie eingeschlossen, konserviert ist und sich mit dem Film öffnet zu einer weiten, unendlichen Landschaft der Vorstellungen, Gedanken und Gefühle. Spröde hat man sie genannt, sperrig, schwarz, tiefschwarz, diese Filme. Nichts davon trifft zu. Was ungewöhnlich ist, ist nicht fremd, sondern anders als in anderen Filmen; und es ist hier und überall anders, in diesen Filmen und in dieser Welt. Was verschüttet ist, zugekleistert, verklebt, verdrängt: in diesen Filmen wird es geöffnet, offen gelegt, befreit, entsperrt.

VERHÄNGNIS ist aus der Abschlussarbeit des ehemaligen Malers, Philosophie- und Musikstudenten und Regieassistenten an verschiedenen Theatern, des Studenten endlich der dffb, der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, entstanden. Das heisst praktisch ohne Budget, als Videoproduktion, von Kelemen selbst aus der Hand gedreht; er wird der Kameramann seiner Filme bleiben. Es ist das technische Verfahren, gewiss, das den von Video- auf Filmmaterial kopierten Bildern ihre poröse Oberfläche gibt, mag sein, aber es sind diese Poren, aus denen Leben quillt, und es sind dieselben Poren, die in Leben eindringen lassen. Obwohl VERHÄNGNIS sofort internationale Anerkennung fand, mit dem Preis der FIPRESCI in San Sebastian und prämiiert auf vielen anderen Festivals der Welt, Toronto und Bogota, Kiew und Riga, und obwohl der Film beim London Film Festival und im Anthology Film Archive in New York höchste Aufmerksamkeit fand, brauchte Kelemen drei Jahre, um seinen zweiten Film FROST zu finanzieren. Der ist in Deutschland fast ebenso unbekannt geblieben wie der Film ABENDLAND. Während es abermals Preise auf internationalen Festivals gab und Retrospektiven des schmalen Werks in Lissabon und Belgrad, Cambridge und Athen, Brüssel und Oslo, New York und Moskau, Buenos Aires und Istanbul. Unter den deutschen Filmregisseuren der Gegenwart ist Fred Kelemen bei den Cineasten der Welt der bekannteste. In Deutschland kennt man ihn kaum.

Der Akkordeonspieler sitzt nicht mehr auf der kurzen Treppe im U-Bahnhof. Ein Chilene hat ihm Geld angeboten und ihn mitgenommen in seine Wohnung. Er will Tangos hören, lateinamerikanische, Tangos ohne Zahl. Immer wieder und nie genug. Nach dem letzten Tango, denn einer muss schliesslich der letzte sein, legt er einen grossen Geldschein auf den Tisch. Den soll der Akkordeonspieler bekommen, wenn er bis zum letzten Tropfen den Wodka trinkt, den er, auf Geheiss des Chilenen, aus einer Flasche in eine Blumenvase gekippt hat. Die Gewalt - denn was anderes ist es, jemanden zu zwingen, so viel Alkohol zu trinken, dass er auf der Stelle daran sterben könnte -, die Gewalt, die aus Einsamkeit und Verlassenheit, aus Heimatlosigkeit und Fremde erwächst, wendet sich gegen den anderen Heimat- und Hoffnungslosen. Er wird sie nicht für sich behalten. Als er bei seiner Freundin Luba einen Mann antrifft, und die Freundin ist halb nackt, schlägt er die Frau zu Boden, erschiesst er den Fremden und flieht in die Nacht. Die Frau aber steht erstarrt vor der Leiche, die man, im Hintergrund läuft ungerührt das Fernsehprogramm, durch ihre zitternden gespreizten Beine sieht. Und dann sieht man und hört man die Angst, den Schrecken, die Panik mit dem Urin, der aus ihr auf die Dielen vor dem Toten rinnt.

Auch in FROST prügelt ein Mann eine Frau, und auch in ABENDLAND ist sie virulent und wirklich, die Gewalt, die durchweg sexuelle Gewalt ist. Aber sie ist keine Lust und bringt nicht wirklich Befriedigung. Nichts dergleichen hat sie auch wirklich im Sinn. Denn sie ist nur Sprache, schiere Sprache der Sprachlosigkeit, etwa des stets betrunkenen Mannes, der zuerst noch und immer wieder sagt: „Aber ich hab dich doch lieb", und dann die Frau, die ihn zurückweist, zusammenschlägt (FROST). Oder des Freiers, der die Frau, die sich ihm verkauft hat und in sein Auto gestiegen ist, übel zurichtet (ABENDLAND). Oder der Männerhorde, die in einer Kiezbar sich in eine Massenvergewaltigung verliert (VERHÄNGNIS). Sie ist auch die Sprache der sprechunfähigen Päderasten, die ein kleines Mädchen töten (ABENDLAND). Die Gewalt, und zumal die sexuelle, ist die letzte Artikulation vor Totschlag und Mord. Sie steht in keinem Wörterbuch, obwohl sie eine Sprache des Lebens ist. Deshalb gehört sie zum Vokabular dieser Filme.

Anton, der Arbeitslose, hat auf dem Arbeitsamt - in dem langen Flur warten Dutzende, obwohl das Warten längst nichts mehr bringt - eine Angestellte niedergeschlagen, die ihn dazu aufgefordert hatte, sich zu setzen. Er kann anders nicht mehr sagen, wie schlecht es ihm geht. Seine Freundin, Leni, die Büglerin, in deren dürftiger Wohnung - ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch - man ihn wiedersieht bei dem missglückenden Versuch, zu ihr ins Bett und auf die Frau zu steigen, Leni fordert ihn auf, mit ihr zu sprechen, ihr zu sagen, dass er sie liebe, denn das tue er doch. Er sitzt, das Bier in der Hand, am Tisch und sagt kein einziges Wort. Auch als die Frau ihn schlägt. Dann geht sie in die Nacht, und wenig später geht er auch. Sie werden einander nicht wiederbegegnen vor dem Ende der Nacht, selbst wenn sie es könnten.

Immerfort bewegen sie sich fort, in ABENDLAND, in VERHÄNGNIS, in FROST, der langen Flucht der Frau mit ihrem Sohn durch eine eisige Landschaft und vereiste Gefühle. Sie sind, auch wenn sie eine Wohnung haben wie Leni, nirgendwo daheim. Es gibt keine Heimstatt, es gibt nur Stationen. Im Vorübergehen, auf der Durchreise irgendwohin. Die Orte, wenn man sie so nennen will, sind Bahnhöfe oder Massenunterkünfte, Bars und Kneipen, sind Kellergelasse oder bestenfalls winzige Zimmer, Mülldeponien, Fabrikhöfe, endlose Felder oder Strassen in verlassenen, menschenleeren Vierteln, in denen schon lange niemand mehr wohnt, Gassen, durch die Hunde wie Wölfe streichen. Jeder und jede ist einsam, sie sind jeder für sich allein, und wenn sie zu zweit sind, irgendwie Paare, sind sie es eben nur irgendwie, stationär, vorübergehend. Bis zur nächsten Station. Wenn diese Filme zuende gehen, könnte hinter ihnen ein neuer beginnen. Denn auch jedes Ende ist nur eine Haltestelle, ist Station.

Etwa wenn der Akkordeonspieler der Frau, deren Liebhaber er niedergeschossen hat, wiederbegegnet. Da kommt sie aus dem Waldstück, wo man sie nach der Vergewaltigung in der Bar offenbar hingekarrt hat; sie treffen sich im wüsten Gelände einer aufgelassenen Fabrik und gehen in den Hintergrund des Bilds. Gemeinsam? Das wäre ein neuer Film; aber ob der anders wäre? Oder: Anton und die Büglerin Leni finden sich am Morgen nach der langen Nacht der getrennten Reisen durch Kneipen und Kaschemmen, Babyprostitution und Babymord, Hurerei und Heiligtum, Absteigen und Abraumhalden wieder in dem Zimmer mit Tisch und Bett, das sie getrennt verliessen. Der Mann sitzt am Tisch, wie am Anfang, die Frau steht am Fenster. Dann sieht sie, am Ende, zu ihm hin. Könnte das ein neuer Anfang sein? Und was wäre anders? Nichts hat sich wirklich geändert, aber alles könnte auch vollkommen anders sein. Mit dem Kind, das in der letzten Einstellung von FROST vor der offenen Landschaft steht, allein. Alles ist offen, alles kann neu beginnen, für das Kind, das schon auf der Schulter des Vaters geschlafen hat auf dem langen Weg durch die nächtliche Berliner Strasse und es vorgezogen hat, alles zu verschlafen, was Vater und Mutter, Mann und Frau miteinander zu streiten und zu prügeln haben. Jetzt, am Ende, hat das Kind die Vergangenheit, diesen ganzen Film in Flammen aufgehen lassen. Hier könnte tatsächlich ein neuer, ein anderer Film beginnen. Es gibt ihn noch nicht.

Es ist oft dunkel auf der Leinwand, ja, aber sie ist nicht schwarz, und tiefschwarz schon gar nicht. Tiefschwarz, das wäre gar kein Film. Es mag dunkel sein in ihnen, in den Bildern und in den Seelen der Menschen. Aber es ist ein Dunkel, das leuchtet. Es ist viel Nacht in den Filmen: ihr Licht kommt aus anderen Quellen. Sie sind auch langsam, diese Filme, aber nicht, weil nichts geschieht, sondern weil sie ausführlich sind. VERHÄNGNIS, 80 Minuten lang, besteht aus nicht viel mehr als zwei Dutzend Einstellungen. Sie dauern drei, fünf, acht Minuten, und die in der Bar, in die sich Luba geflüchtet hat, sich betrinkt und beim Tanzen hinfällt, wobei zu sehen ist, dass sie unter ihrem Mantel fast nackt ist, und wo sie schliesslich einen der Männer zum Cunnilingus unterm Wirtshaustisch provoziert, worauf die Vergewaltigung folgt, diese Einstellungssequenz währt, ungeschnitten, etwa vierzehn Minuten. Keine dieser geduldigen, insistierenden Einstellungen sperrt den Zuschauer aus: jede nimmt ihn mit. Die Filme sind lakonisch, es wird wenig in ihnen gesprochen, meistens nicht einmal das Nötigste, gerade da, wo es am nötigsten wäre: aber man hört, was zu sagen wäre; man spricht es selbst. Und wenn in ABENDLAND längere Dialoge vorkommen als in VERHÄNGNIS und FROST, dann wirkt das fast redselig, und ist doch nur explizit: es wird nicht eine Geschichte wie in FROST, es werden nicht zwei wie in VERHÄNGNIS, es werden mehrere Geschichten erzählt, die Geschichte schlechthin.

Fred Kelemen, Autor, Regisseur, Kameramann, Monteur seiner drei Filme, scheint sie aus der Armut produziert zu haben, die das Insignium seiner Figuren ist. Und doch gibt es kaum reichere Filme in Deutschland als diese armen. Ihr Licht ist die Nacht, ihr Weg ist die Beharrlichkeit der Kamera, ihr Leben sind lange, sehr lange Augenblicke, wie es schönere lange nicht gegeben hat. Das Brot ihrer Menschen sind Bier und Zigaretten, und ihr Dach ist der Himmel, zu dem die Prostiuierte Nina ihrer Zufallsfreundin Leni hinauf zu schauen rät, wenn sie sich ganz am Ende fühle, und sich zu fragen, was denn ein Mensch sei neben einem Stern. Lenis Antwort ist die Antwort Kelemens auf alle Fragen. Und der Himmel, den man in Abendland nicht zu sehen bekommt, den konnte man aus Verhängnis mitnehmen als den Himmel voller Sterne, in den der Blick Lubas fällt, wenn sie, aus ihrer Wohnung geflüchtet, nach panikartigem Lauf durch die leblose nächtliche Strasse hingestürzt ist in den vielfach gebrochenen, den zerbröselten Asphalt.

Was schon sind alle Sterne, die am Himmel des Kinos glitzern neben diesen Menschen, die nicht mehr dazu imstande sind, sich zu sagen, dass sie sich lieben? Oder die es so oft sagen wie der stets betrunkene Vater der Mutter des gemeinsamen, somnambulen Kindes, dass er schliesslich, da die Frau es nicht mehr hören kann, gewalttätig wird. Oder wie die Tangos des Akkordeonspielers auf der Treppe des U-Bahn-Schachts oder bei dem Chilenen. Musik, auch sie ist Sprache wie die Sprachlosigkeit, wie die Gewalt, wie die Bilder der Nacht. Deshalb kommt sie bei Kelemen nur vor wie in der Wirklichkeit, die der Acker ist, den seine Filme pflügen, das heisst: nur wenn sie als source music spricht, wenn sie in den Bildern spricht, und niemals nebenher oder um der Effekte seelischer Sensationen willen. Denn dieser Filmemacher meint es verdammt ernst mit seinen Filmen. Deshalb ist er ein Purist, deshalb sind seine Filme von einer Reinheit, wie es sie nicht mehr gibt im Alltag unseres Kinos. Man kann, wenn man will, an Béla Tarr (KARHOZAT. Verdammnis) denken, Mentor an der Filmakademie, für den Kelemen bei JOURNEY TO THE LOWLAND später die Kamera geführt hat. Oder an Filme von Andrej Tarkowskij. Oder an Alexander Sokurow. Dessen frühe Filme wie MARIA atmen die gleiche Luft von Armut und Dürftigkeit, von Elend und Sprachunfähigkeit, den Odem der Wirklichkeit. Und der Film DNI SATMENIJA (Tage der Sonnenfinsternis) beginnt ähnlich wie VERHÄNGNIS mit einer melancholischen, insistierend eintönigen Musik und den stummen, aber umso beredteren Bildern von Menschen, die so fremd sind, dass sie vertraut werden und nie mehr vergessen werden können. Nur dass sich bei Sokurow die Kamera vom Himmel stürzt und landet, wo VERHÄNGNIS schon angekommen ist.

Sie sind keine Road-Movies, die Filme Kelemens, so unentwegt unterwegs die Menschen auch sein mögen. Sie kennen, sie suchen keinen Horizont, wenn er nicht in ihnen selbst ist. Es sind Filme wie Kreuzwege auf den Kalvarienberg. Die führen durch alle Erniedrigungen, Verletzungen und Schmerzen, durch alle Qualen der Hölle, die von dieser Erde ist. Der brotlos gewordene Glockengiesser, wer braucht denn noch Glocken, lässt sich, die Füsse nach oben, hinauf ziehen in sein letztes Werkstück. Sein Kopf wird zum Klöppel, aber die Glocke ertönt, die sein vermisstes Kind nach Hause rufen soll. Man hört sie noch einmal, wenn das von der Geilheit ermordete Kind durch die Strassen der verlorenen Stadt getragen wird. Auf den Armen des Mannes, der nicht mehr in der Lage ist, von seiner Liebe zu sprechen. Jetzt sprechen seine Arme, die das Kind tragen, und seine Schritte auf dem Pflaster.
..............................................................................................................................................................