» Abschied von der Utopie des Ostens | Vortrag von Erika Richter
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Abschied von der Utopie des Ostens
Fragmentarische Bemerkungen zu einigen wesentlichen Filmen

Vortrag von Erika Richter | gehalten am 25. Juni 2004 in Wismar anlässlich des Kultur- und Mediensymposiums »Deutsche Geschichte in Autorenfilmen ab 1945 – Versuch eines ostwestdeutschen Diskurses«

Zugegeben, ein etwas hochtrabender und anmaßender Titel. Ein Gegenstand, der für viele Bücher reichen würde und auf diesem Forum und in dieser Zeit überhaupt nicht seriös zu behandeln ist.
Dennoch ist der Titel mit einigem Bedacht gewählt, denn ich wollte mich abgrenzen gegen die vielen Filme, die in den letzten 15 Jahren entstanden und den Zusammenbruch der DDR oder des Ostens insgesamt, mehr oder weniger den Fakten folgend, in den verschiedensten komischen oder dramatischen oder kriminalistischen Genres nachzeichneten. Vielmehr möchte ich auf einige Filme aufmerksam machen oder wieder aufmerksam machen, die wirklich etwas vom Verlust der Utopie deutlich machen, der mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Länder in den Jahren 1989 – 1991 einherging, oder vielleicht sollte man eher sagen, mit dem zeitweiligen Verblassen der Utopie. Denn es ist sehr zu bezweifeln, ob die Utopie von einer gerechteren Gesellschaft, in der alle Menschen satt werden, ein Dach über dem Kopf und Arbeit haben und als Menschen geachtet sind, auf Dauer durch die Auflösung der Gesellschaften vernichtet werden kann, die sich auf diese Utopie beriefen. Ich glaube, Utopien sind unzerstörbar, da sie eben ein Nirgendland, eine nicht realisierbare Idealvorstellung bezeichnen und folglich durch angebliche Realisationen ihrer Ideen letztlich nicht berührt werden können. Natürlich können sie durch politische Entwicklungen zeitweilig in den Hintergrund gedrängt werden, was zur Zeit der Fall ist. Insofern ist auch die Bezeichnung »Utopie des Ostens« eine fragwürdige, denn die Vorstellungen von einer anderen, der jetzigen Gesellschaft konträr entgegengesetzten gerechteren Gesellschaft ist natürlich weder eine östliche noch eine westliche, sondern immer eine generelle Weltvorstellung gewesen. Ich habe das aber bewußt so eingegrenzt, weil sich diese Vorstellungen im zwanzigsten Jahrhundert natürlich doch sehr stark an die Entwicklung der SU und später des sozialistischen Lagers geknüpft haben und ihr Verständnis von deren Realität geprägt war und weil es im Film um das Verschwinden dieser von den spezifisch osteuropäisch bestimmten Versuchen einer Annäherung an diese Utopie geht.

Wie gesagt, allein in Deutschland gibt es vielleicht Hunderte Filme, die die Fakten der gesellschaftlichen Veränderungen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in verschiedensten Varianten verfolgen. Aber es gibt nur sehr wenige Filme, die das wirkliche Gewicht, philosophisch, historisch, politisch, menschlich zu gestalten vermögen, die wirklich etwas vom Verlust der Utopie, deren Wertvorstellungen, die zunächst einmal diese Gesellschaften angetrieben haben, wenigstens andeutungsweise erfassen, und zwar nicht in Dialogen, nicht in Auseinandersetzungen, nicht verbal, sondern in filmsprachlichen Formulierungen, in nur dem Film möglicher Ausdrucksweise. Es geht mir also nicht nur um dieses Thema, sondern es geht mir genauso um die Filmsprache, die entwickelt wird, um diesem Thema filmisch nahezukommen. Diese Absicht bezeichnet zugleich eine Schwierigkeit dieser Ausführungen: Wie allgemein bekannt, ist es schwierig, einen wirklich filmischen Ausdruck eines Sujets, einer Geschichte, eines Menschen, einer Stimmung adäquat in Sprache zu übersetzen, der original filmischen Qualität mit sprachlicher Beschreibung gerecht zu werden. Es kann hier immer nur um Annäherungen und Andeutungen gehen.
Ein weiteres Problem muß vorher angedeutet werden. Filmkunst ist immer komplex und läßt sich keinesfalls unter ein Thema subsumieren. Wenn filmkünstlerische Werke unter einem bestimmten thematischen Aspekt betrachtet werden, wird ihr innerer Reichtum verengt, und es könnte der Eindruck entstehen, als seien sie didaktisch oder pädagogisch darauf hin angelegt, um bestimmte Dinge zu beweisen. Alle von mir hier vorgestellten Filme sind komplex und vielschichtig. Der von mir ausgewählte Aspekt ist nur eine Schicht unter anderen Schichten, die in diesen Filmen genauso auszumachen sind. Ich könnte sie auch unter ganz anderen Gesichtspunkten beschreiben.

Mit existentieller Wucht setzt sich Fred Kelemen mit unserer Welt, und in diesem Zusammenhang mit dem Untergang des Ostens und dessen Auswirkungen auf Existenz und Weltempfinden der heutigen Menschen, in seinen drei Filmen »Verhängnis« (1995), »Frost« (1997/98) und »Abendland« (1999) auseinander.
Er schafft in jedem seiner Filme – jeweils verschieden - eine Welt, die wir als die Gesellschaft erkennen, in der wir gegenwärtig leben, die uns vertraut ist, aber die – auf jeweils eigene Weise – Zeichen trägt, welche ganz deutlich auf den Zusammenbruch der östlichen Gesellschaften mit allen Konsequenzen aufmerksam machen. Es geht immer um die Schicksale einzelner Menschen. Diese Menschen verfügen einerseits über einen großen Lebenshunger, eine große Lebenskraft und Vitalität, sind aber durch ihre Existenz am sozialen Rand der Gesellschaft geknebelt und rat- und hilflos, wie sie diese Kraft ausleben, wie sie unter ihren sozialen Bedingungen als Menschen mit Würde leben können. Sie leiden unter einem extremen Mangel an Sinn, den sie spüren, aber nicht ausdrücken können. Infolgedessen wird darüber auch nie gesprochen. Aber ich als Zuschauer nehme dieses Vakuum an Sinn schmerzhaft wahr, empfinde dies aber nicht als individuellen Mangel der Figuren, sondern als ein generelles Problem unserer Gesellschaft. Der Verlust von Lebenssinn wird natürlich auch in anderen Filmen mehr oder weniger angedeutet. Aber das Besondere der Filme von Fred Kelemen besteht meines Erachtens darin, daß ich dieses Sinn-Vakuum als einen furchtbaren Schmerz erlebe, dessen ich mich nicht erwehren kann und der mich dazu zwingt, wahrzunehmen, daß der Welt um mich herum etwas Entscheidendes fehlt und daß ich dieses Defizit nicht einfach als gegeben hinnehmen darf, sondern daß ich mich dagegen irgendwie zur Wehr setzen muß. Alle drei Filme tragen – auf jeweils ganz verschiedene Art – meines Erachtens etwas zutiefst Aufsässiges, Rebellisches, ein großes Protestpotential in sich.

In »Verhängnis« geht es um einen russischen Straßenmusiker und seine Freundin, die am untersten sozialen Rand der Gesellschaft einen harten Existenzkampf bestreiten müssen.
Ich zeige den Anfang des Films.
Zu den Filmausschnitten Folgendes vorweg. Da es sich in den Filmen Fred Kelemens um eine jeweils konsequent gestaltete, in sich stimmige Welt handelt, in der der von mir beschriebene Sinn-Verlust der heutigen Welt niemals in einzelnen Szenen direkt ausgedrückt wird, sondern als immanenter Subtext den gesamten Film durchzieht, bin ich mir einer gewissen Barbarei und Kunstfeindlichkeit des Agierens mit Ausschnitten bewußt. Ich habe aber trotzdem aus jedem Film eine freilich lange Passage ausgewählt, einfach weil ich keine Gelegenheit verstreichen lassen möchte, auf diese von mir sehr bewunderten Filme hinzuweisen und Anstöße zu geben, daß der eine oder andere sich dafür einsetzt, daß sie in Kinos oder Filmklubs oder wo auch immer öffentlich gezeigt werden. (Filmausschnitt aus »Verhängnis«: Anfang bis einschließlich der Kriegsbilder auf dem Grund des Brunnens)
Obwohl es mir widerstrebt, Filmbilder, zumal wenn sie von Kraft und Tiefe sind, durch verbale Interpretation gewissermaßen zu domestizieren, möchte ich doch auf einiges aufmerksam machen. Möglicherweise befinden sich Zuschauer unter uns, die an einen solchen Film nicht gewöhnt sind und für die es vielleicht hilfreich ist.
Bemerkenswert scheint mir, daß in »Verhängnis« das Filmmaterial selbst zu einem Ausdruck von Sinn wird. Das Pointillistische dieses Films – ein Ausdruck von Jens Jessen in seiner wunderbaren Kritik zu diesem Film in der »FAZ« vom 9.2.96. -, das entsteht, wenn Videomaterial auf 35mm-Format vergrößert wird, drückt ganz unmittelbar ein Gefühl der Beunruhigung, der Gefährdung, der Unsicherheit des Lebens in dieser unserer Welt aus. Hier geht nichts glatt. Ähnlich der Struktur des dicken Farbauftrags in späten Bildern van Goghs, die selbst bei sonnigen Landschaften eine tiefe innere Beunruhigung und Angst ausdrückt, ergibt sich u.a. aus dem Erlebnis dieses Materials, daß die Schicksale der beiden Menschen höchst ungewiß und gefährdet sind.
Wenn der Mann nach dem schrecklichen Erlebnis in der Wohnung des Chilenen in das Wasser dieses Springbrunnens hineinwatet und schließlich einen durchdringenden Schrei ausstößt, empfinde ich mit allen Fasern meines Seins, daß dies einerseits seine Qual angesichts der eben erlittenen Erniedrigung ausdrückt, daß dies aber andererseits weit über diese eben erlittene persönliche Demütigung hinausgeht. Es ist ein Schrei der gepeinigten Kreatur. Es ist ein Urschrei der Verzweiflung und der Klage. Es ist ein - vergeblicher - Schrei um Hilfe. Dieses mein Gefühl bestätigt sich kurz danach auf unerwartete bildliche Weise. Ich sehe das sich bewegende Wasser des Springbrunnens, und bei genauerem Hinsehen, entdecke ich – durch die Wellenbewegungen des Wassers mal deutlicher, mal undeutlicher – auf dem Grund des Brunnens Bilder von Toten, von Kindern, von Kriegsopfern. Es ist nur ganz vage zu sehen und nur für denjenigen, der genau hinschaut. Aber selbst der, der die Bilder nicht genau erkennt, nimmt etwas Alarmierendes wahr, etwas, was eigentlich nicht auf den Grund einer solchen städtischen Brunnenanlage gehört, er empfindet eine Beunruhigung, vielleicht sogar eine Angst. Es ist wie ein kurzer schlimmer Traum, den man abschütteln will, aber nicht kann.
Soweit zu diesem Filmausschnitt.

In »Frost« flieht eine junge Frau mit ihrem siebenjährigen Sohn Micha am Weihnachtsabend vor dem trunksüchtigen und gewalttätigen Ehemann aus Berlin und will an den Ort ihrer Kindheit in der ehemaligen DDR zurückkehren. Dort hofft sie Frieden, Freundlichkeit, Hilfe zu finden. Doch als sie glaubt, den Ort ihrer Kindheit erreicht zu haben, findet sie eine endlose Eisfläche, keinen Baum, keinen Strauch. Wenige verfallene Häuser. Hat es den Ort der Kindheit je gegeben? Auf der siebentägigen Reise durch das vereiste Deutschland finden beide keine Hilfe, keine Unterstützung, nur selbstsüchtige Interessen. Überall muß die Mutter mit der einzigen Währung, die sie hat, mit ihrem Körper bezahlen, egal ob für Unterkunft oder Arbeitsmöglichkeit. In der Not ruft das Kind den Vater zu Hilfe. Aber der ist derselbe geblieben, vor dem sie geflohen sind. Erneut konfrontiert mit den brutalen Auseinandersetzungen seiner Eltern, zündet Micha Bett und Zimmer, den Kampfschauplatz seiner Eltern, an.
Es geht gar nicht in erster Linie um die verfallenen Ortschaften im Osten Deutschlands, um eine Landschaft, die an eine Nachkriegslandschaft erinnert, wo es keine Heimstätte für den Menschen gibt, sondern darum, daß die Frau der Leere, die an die Stelle ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte getreten ist, keine Idee, keine andere Überzeugung, keine möglich erscheinende Vision entgegenzusetzen vermag. Es gibt einfach keine Idee mehr, wie man diesem die Welt beherrschenden Egoismus, dieser Habgier, diesem Verweigern von Solidarität, Gnade und Erbarmen produktiv begegnen könnte. Durch das Wegbrechen einer vom Gedanken her kritischen Gegenwelt hat sich die moralische Leere, die in der modernen kapitalistischen Gesellschaft natürlich schon seit langem existiert, zugespitzt und vertieft, in der die Menschen ratlos, hilflos und hoffnungslos versinken, obwohl sie doch voller Jugend und Leben und Kraft stecken. (Filmausschnitt aus »Frost«: Mutter und Kind finden im Haus einer Frau Unterkunft.)
Wir erleben die Kraft dieser Frau, die sich nicht so schnell vereinnahmen läßt. Ihr Tanz nach einer Musik, die sie selbst mitgebracht hat, ist eine Versinnbildlichung von Widerstand, von Protest gegen die Reiche, die glaubt, weil sie ein Haus besitzt, der anderen mit ihrem Kind Unterkunft gewähren kann, diese Fremde auch beherrschen zu können. Aber bei aller Kraft erscheint uns dieser Tanz auch als etwas Bedrohliches. Wir erleben die monotone, jedoch soghafte Musik, die sich immer mehr steigernden, schließlich geradezu rauschhaften Tanzbewegungen in der Dunkelheit des Raumes, die fahrigen Gesten der Tänzerin, die immer wieder das Gesicht bedeckenden Haarsträhnen, die in der zunehmenden Geschwindigkeit eine Art abstraktes Muster bilden. Es ist eine Art Höllentanz, voller Kraft, aber auch voller Anspannung, ohne Entspannung, ohne Befreiung. Dieser Widerstand läuft ins Leere. Wenn sie sich endlich erschöpft hinsetzt, das Haar aus der Stirn streicht, blickt sie völlig verloren und hilflos vor sich hin.
Und das nächste große Bild bestätigt unser Gefühl einer großen Ratlosigkeit. Es ist dieser unglaubliche langsame Schwenk von 360 Grad, rings um die Frau mit ihrem Kind, die da auf ihrem Koffer hockt, über die verschneite einsame Landschaft, und dieser Schwenk formuliert ganz aus sich heraus, still und unabweisbar eine große Leere, eine große Frage, eine große Einsamkeit, eine große Verzweiflung. Dieses Bild drückt die Situation der Frau und ihres Kindes mit überwältigender Kraft aus, aber es geht zugleich über dieses einzelne Schicksal hinaus. Es ist ein aus der Geschichte heraustretendes poetisches Bild, das an uns alle die Frage nach dem Sinn, nach dem Wohin, nach einer Hoffnung im Leben stellt.
In diesem Film wird am Schluß ein Zeichen des Widerstands gesetzt. Das Kind, das dem geistigen Vegetieren der Mutter genauso wenig mehr zusehen kann wie den brutalen Auseinandersetzungen seiner Eltern, wehrt sich auf sehr drastische Art: Es setzt diese Welt in Flammen, vernichtet sie. Aber Micha selbst geht wie Phönix aus der Asche aus dem Feuer hervor.
Wir sehen ihn am Rand der Landschaft stehend. Er ist allein. Er ist verletzbar, denn er ist ein Kind. Aber er scheint entschlossen, sich zu wehren. Wie der Junge mit unbewegtem Gesicht auf die einsame, verlassene Landschaft rings um ihn her sieht – dieses Schlußbild ist eine Kampfansage

In »Abendland« ist die Beziehung der Menschen zum Zerfall der östlichen Gesellschaften am unmißverständlichsten ausgedrückt. Anton, der zunächst lange auf dem Arbeitsamt saß und dort auf die Sinnlosigkeit dieses Wartens mit einem tätlichen Angriff auf eine Angestellte des Arbeitsamtes reagierte, sucht im Laufe des Tages seinen alten Betrieb auf, der jetzt stillgelegt ist, nur noch von einem Mann mit Hund bewacht wird. Anton bringt dem Hund etwas zu essen und versucht ihm begreiflich zu machen, daß er ihn doch noch kennen müsse. Vergeblich. Das alte Schild »VEB Transformatorenwerk ...«, verwittert, dennoch gut zu erkennen, verweist genauso wie die Gleichgültigkeit des Hundes auf eine schon lange zurückliegende Zeit. Und Anton ist irgendwie aus der Zeit herausgefallen. Er hat nicht nur keine Arbeit, verdient kein Geld, muß sich das, was er braucht, von seiner Frau, die als Büglerin arbeitet, zustecken lassen, sondern Anton ist ob dieses Verlustes seines Lebenszentrums als Mensch verstummt. Er kann, außer mit Tieren, nicht mehr reden, nicht mehr mit seiner Frau, nicht mehr mit anderen Menschen. Auch auf andere, nicht-verbale Weise kann er mit seiner Frau nicht mehr kommunizieren. Er ist kontakt- und liebesunfähig geworden.
Aber als er sich auf seinen Weg durch die Nacht macht, getrennt von seiner Frau, die auf der Suche nach Glück allein losgeht, erweist es sich, daß er noch nicht ganz tot ist. Er vermag sich für das Leid eines anderen Menschen zu öffnen, eines Ausländers, dessen kleines Mädchen entführt wurde, und er zeigt durch eine grausame Selbstverletzung, daß er ob der Untreue seiner Frau, die er beobachtet, einen tiefen Schmerz empfindet. Wer Schmerz empfinden kann, ist noch nicht tot. Schmerz ist ein Lebenszeichen.
Am Ende ist er derjenige, der das tote Kind zu seinem Vater trägt. Wir sehen, wie er sich zögernd der Menschenansammlung am Fluß nähert, die schweigend verharrt. Die Menschen - wir entdecken es allmählich – betrachten das tote Kind, das am Fluß liegt. Anton geht schließlich durch die Gruppe hindurch auf das Kind zu und kniet nieder. Sein Gesicht ist unbewegt, dennoch spüren wir seinen tiefen Schmerz. Er versucht, die kleinen Hände von den angenagelten Hufeisen zu befreien. Vergeblich. Schnelle Schritte entfernen sich und nähern sich wieder. Eine Eisenzange wird ihm gereicht. Damit versucht er ein weiteres Mal, die Hufeisen zu entfernen. Wir sehen ganz nahe in sein Gesicht – die Nahaufnahmen wurden wie im ganzen Film auf Video gedreht und sind von einer entsprechenden Körnigkeit des Materials bestimmt – und spüren die Qualen die er erleidet, weil er dem Kind noch im Tode wehtun muß, geradezu physisch. Er stöhnt vor Entsetzen, bis er diese Aufgabe endlich erfüllt hat, den kleinen Körper nun in ein Leichentuch schlägt, das Kind auf dem Arm, sich aufrichtet, und, von einem größeren Kind geführt, durch die einsame, frühmorgendliche Stadt geht, in den Keller, wo die Familie zu Hause ist. Diese ganze Handlung, eigentlich vollkommen sachlich gezeigt, läßt uns an eine Kreuzabnahme denken, an Opfer und an Erlösung. Ganz nebenbei sehen wir, wie von einer Mauer der Brücke Wasser rinnt. Die Steine weinen.
Wenn Anton, der zunächst ausgehöhlt und leer und tot erschien, nach diesem Gang, den er auf sich genommen hat, wieder zu Hause angekommen ist und kurz nach ihm auch seine Frau eintrifft, beobachten wir einen Blickwechsel der beiden. Darin liegt ein wenig Hoffnung. Es ist eine minimale Andeutung.
Vielleicht ist es doch möglich, daß Anton und Leni das Loch, die Leere ihres Lebens aus eigener Kraft mit Zuwendung zum anderen füllen. Vielleicht ist es möglich, daß man vergeben kann Eine höchst sparsam angedeutete Möglichkeit, die für verschiedene Sinndefinitionen offen ist, zum Beispiel auch für eine christliche, die aber auf jeden Fall Lebenssinn als möglich erscheinen läßt.
(Filmausschnitt aus »Abendland«: Schluß ab der Einstellung, die Anton am Fluß zeigt)
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