» Die Glut der Kälte
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Fred Kelemens „Glut“ wagt den Blick ins Dunkel des Seins
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Die Ideologen des realsozialistischen Optimismus tabuisierten Einsamkeit, Trauer und Tod.
Künstler, die solche Themen aufgriffen, galten als Fahnenflüchtige ins unkontrollierbareTerrain des Individuellen. Sie wurden ausgegrenzt wie Alexander Sokurov oder drangsaliert wie Andrej Tarkovskij, der dann allerdings westlichen Konsum-Materialismus als eine ebenso verhängnisvolle Verdrängung des Spirituellen erlebte. Seit den 80er Jahren, als Tarkovskij ins westliche Exil ging, haben „action“ und „Frohsinn“ die Sensibilität für „Zwischentöne“ offenbar derart erfolgreich abgestumpft, dass der Blick in die dunklen Seiten der menschlichen Existenz, in die inneren Dimensionen des Sichtbaren von vielen offenbar nur noch als etwas Obsoletes und Störendes wahrgenommen wird, das man besser frozzelnd zur Seite schiebt. So wie das am 13.10.2005 Jan Brachmann im Feuilleton dieser Zeitung mit Fred Kelemens „Glut“ tun zu können glaubte. Mit einem Film, auf den er sich erst gar nicht einliess, obwohl die grosse amerikanische Kulturphilosophin Susan Sonntag schon nach Kelemens Debüt „Verhängnis“ besondere Aufmerksamkeit für das rare Talent dieses Regisseurs empfahl.
Sicher ist Kelemens „Glut“ keine leichthin konsumierbare Unterhaltung. Das tödliche Scheitern einer Liebe an Unverbindlichkeit und Kälte kommt hier nicht als erzähllogische Story ins Bild, sondern als ein dunkel verrätseltes Situations-Mosaik. Die häufig verwaschenen Schwarz-Weiss-Bilder meist nächtlicher Szenen sind sperrig und voller meditativ-langsamer Nachdenklichkeit. Doch wer sich auf sie einlässt, dem öffnet sich dann das Fenster in die innere Wirklichkeit der äusserlich sichtbaren Welt. Der erlebt die Aura der eben auch zu unserer Existenz gehörenden Alpträume und Ängste. Verlassenheit und Einsamkeit, die zu jenem Sprung von der Brücke führen können, mit dem Kelemens Film beginnt. Ein zufällig Vorübergehender beobachtet diesen Sprung einer jungen Frau ins Nichts, in den Tod, verhindert ihn aber nicht. Das Unbegreifliche des Geschehenen lässt ihn zu einem Detektiv des Existenziellen und Metaphysischen werden. Es geht dabei nicht nur um die Frage der Schuld, um das eigene Versagen wie das des Unbekannten, der mit unverbindlichem Beziehungsspiel seine Geliebte ahnungslos in verzweifelte Einsamkeit, in den Sturz von der Brücke trieb. Obsessives Grübeln führt den ansonsten wenig bemerkenswerten Archivangestellten zu den Grenzfragen des Seins. Dem Zuschauer vermittelt durch Bilder, deren Perspektive unerbittlich, kalt und trostlos auf die Wunde der Unbehaustheit, der inneren Heimatlosigkeit gerichtet ist. Nur einmal kommt Licht ins Dunkel, „untermalt“ von Lenskijs Abschiedsarie aus Tschajkovskijs „Jevgenij Onegin“: als dieser Detektiv des Abgründigen auf Dias anfänglicher Glücksverheissungen stösst. Doch das waren eben Trugbilder, denen der Sturz in den Abgrund folgte.
Der in (West-)Berlin geborene deutsche Regisseur trägt nicht nur einen ungarischen Namen, sondern hat von seiner ungarischen Mutter auch eine besondere Affinität für dieses mitteleuropäische Land geerbt, in dessen Kultur schon damals, als es noch die „fröhlichste Baracke des Ostblocks“ genannt wurde, die Sensibilität für die Nachtseiten des Existenziellen überaus wach waren. Béla Tarr, der gegenwärtig wohl kompromissloseste Autorenfilmer Europas, hat Fred Kelemens Blick in diese Richtung sicher stark beeinflusst. Ebenso sind ihm zweifelsohne auch die russischen und baltischen „Metaphysiker des Films“ – wie Tarkovskij und Sokurov, wie der Este Sulev Keedus oder die Litauer Sarunas Bartas und Audrius Stonys wesensverwandt.
Dass Fred Kelemen „Glut“ in Lettland drehte, hängt sicher auch mit der offenen Sensibilität der Balten für meditative Realitätsbezüge zusammen. Schon Tarkovskij zog sich aus dem lauten Moskau immer wieder in die kreativ inspirierende Stille von Jurmala bei Riga zurück.
Glücklicherweise bestand der Regisseur auf einer deutschen Untertitlung der lettischen und russischen Dialoge: nur so blieb die emotionale Orchestrierung der Intonationen erhalten. Nur so ist die fremde Nähe und die Glut der Kälte von dem zu erfahren, der noch offene Sinne dafür hat.
Dass hiesige Filmbürokraten wegen der fremden Sprachen „Glut“ zunächst nicht als „deutschen Film“ gelten lassen wollten, demonstriert übrigens die Integrationsprobleme „östlicher“ Impulse im letztendlich bislang nur administrativ „erweiterten Europa“:
Fred Kelemen ist für die deutsche Kinokultur auch gerade deshalb so wichtig, weil er hellwach und offen ist für das Potential sowohl „östlicher“ Kreativität als auch der metaphysischen Realität des Menschen für die internationale Filmkunst.
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Hans-Joachim Schlegel, 3. November 2005, für Berliner Zeitung