» Für eine andere Filmförderung | von Peter W.
Jansen
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Meine Damen und Herren. Bevor ich zu dem Thema komme, das in der Überschrift
steht, sollte ich Ihnen einiges von den Voraussetzungen erzählen,
die zu meiner Meinungsbildung beigetragen haben. Dazu gehört vor
allem das Glück des Filmbesessenen, einen Beruf auszuüben, der
ihm, und das fast eher nebenbei, erlaubte, in etwa vierzig Jahren kontinuierlich
Jahr für Jahr um die 500 Filme zu sehen, neue und alte, zuweilen
zum wiederholten Mal, von denen ich zum Glück die meisten wieder
vergessen habe, weil es auch Filme zum Vergessen waren.
Von Kindesbeinen an bin ich ins Kino gegangen. Das heisst: diese Kinogeschichte,
die ich erzählen könnte, ist bald 70 Jahre alt. Ein bisschen
wenigstens von dieser Karriere will ich erzählen, in der Hoffnung,
dass Sie vielleicht etwas für sich selbst damit anfangen können.
Denn Sie, das heisst die Jüngeren unter Ihnen, tun mir leid, und
gleichzeitig beneide ich Sie. Sie tun mir leid, weil Sie so viel nachzuholen
haben, 5.000, 10.000 Filme, wenn Sie einigermassen wissen wollen, was
Filmgeschichte ist. Und was Kino ist oder sein kann. Oder sein könnte.
Ich beneide Sie, die meisten von Ihnen, weil Sie diese wunderbare Erfahrung
noch vor sich haben, die immer, das wünsche ich Ihnen, eine Erfahrung
sein kann, die Sie mit sich selber machen. Denn eines wünsche ich
Ihnen vor allem: dass Sie niemals satt sein werden. Dass Sie niemals Überdruss
empfinden. Dass Sie niemals arrogant werden, ausgebufft, hochnäsig,
gelangweilt. Dass Sie niemals ungeduldig werden, denn Filme können
gelegentlich auch anstrengend sein und Widerstände im Zuschauer mobilisieren.
Sie sollten versuchen, das nicht dem Film, den Sie gerade sehen, anzulasten.
Vielleicht hilft auch Ihnen in einer solchen Situation eine Erkenntnis
des Physikers Georg Christoph Lichtenberg weiter, des Meisters des Aphorismus
in Deutschland, der schon vor mehr als 200 Jahren wusste: wenn ein Kopf
und ein Buch zusammen stossen und es klingt hohl, so muss das nicht unbedingt
am Buch liegen. Das lässt sich getrost auch aufs Kino übertragen.
Jedenfalls hat mir Lichtenberg immer wieder geholfen. Zum Beispiel als
mich irgendwann in Cannes beim dritten oder vierten Film des Tages die
Geduld angesichts des mehr als vierstündigen O THIASOS (Die Wanderschauspieler)
verliess und ich selbst das Kino. Gottseidank ist mir Lichtenberg eingefallen,
und zum Glück gab es am nächsten Tag eine Wiederholungsvorstellung,
so dass ich einen meiner Lieblingsfilme wirklich kennen gelernt habe,
den ich seitdem mehrmals wieder gesehen habe, vollständig, oder nur
die eine und andere Sequenz.
Man muss sich nicht genieren, Filme nur stückweise und in einzelnen
Ausschnitten zu sehen, vorausgesetzt: man kennt sich aus in dem betreffenden
Film; denn dann können einzelne Szenen oder Sequenzen die Erinnerung
an den ganzen Film evozieren. Nahezu jeder, der einmal CASABLANCA gesehen
hat, kennt seine Lieblingsszene, und die ist in vielen Fällen immer
dieselbe. Das ist nur ein Beispiel für Dutzende, ja Hunderte. Und
das gilt nicht nur für deutsche Filmenthusiasten.
Ich befinde mich, zugegeben, in der kommoden Situation eines Liebhabers,
der das Werk vieler Giganten der Filmgeschichte komplett oder nahezu komplett
gesehen hat. Dazu hat nicht zuletzt beigetragen die „Reihe Film“
des Hanser Verlags, die auch unter dem Namen „die blaue Reihe“
bekannt ist und die heute, bald 15 Jahre nach dem Erscheinen des letzten
von 45 Bänden, allenfalls in gut sortierten Bibliotheken vollständig
vorliegt. Die „Reihe Film“ war eine Erfindung von Wolfram
Schütte und mir, die wir beide die französischen, amerikanischen,
britischen Monografie-Reihen kannten, um die wir unsere Freunde dort beneideten.
Endgültig ausgeheckt haben wir den Plan der Reihe und den relativ
streng gehaltenen Aufbau eines jeden Bandes, von Truffaut bis Angelopoulos,
während eines Festivals am Lido, genauer gesagt: beim Baden in der
Adria. Wir hatten das Glück, in Jürgen Kolbe, dem späteren
Münchner Kulturreferenten, den begeisterungsfähigen Lektor des
Hanser Verlags zu finden. Der nie versucht hat, uns in unsere Planung
hineinzureden, uns, den Herausgebern und Redakteuren und immer mal wieder
auch selbst Autoren unserer Bände; wir waren unsere eigenen Mittelverwalter
und Buchgestalter. Wir hatten ferner das Glück, dass uns von Anbeginn
an die Stiftung Deutsche Kinemathek mit ihrem damaligen, inzwischen leider
längst verstorbenen Direktor Heinz Rathsack lebhaft unterstützt
hat, mit einem fest budgetierten Zuschuss zu jedem Band und vor allem
mit der Organisation von möglichst kompletten Retrospektiven, die
meistens in Berlin stattfanden: für alle an dem jeweiligen Band beteiligten
Autoren; ich habe deren Zahl nicht gezählt, aber es werden wohl alles
in allem und auf die ganze Reihe gerechnet an die drei Dutzend gewesen
sein. Aber eine korrekte Zahl will ich Ihnen jedenfalls liefern: hätten
Sie gewusst, dass Roberto Rossellini ein gefilmtes Werk – und damit
meine ich sowohl die Spielfilme als auch seine umfangreichen Arbeiten
für das frühe Fernsehen – ein gefilmtes Werk von ziemlich
exakt 100 Stunden hinterlassen hat? Wir haben diese 100 Stunden in zehn
Tagen gesehen. Man muss schon besessen sein, um sich das anzutun. Wir
waren total erschöpft, und wir waren in jenem Rausch, in den man
auch bei Filmfestivals mit vier, fünf oder sechs Filmen am Tag geraten
kann, so dass man nachts, in den vier oder fünf Stunden Schlaf, von
Filmen zu träumen anfing, die es gar nicht gab.
Und da ich schon die Festivals angesprochen habe. Für mich, dessen
Hauptberuf ja nicht der eines Filmkritikers war, sondern der des Leiters
der Kulturredaktion eines Hörfunkprogramms, für mich waren die
Festivals, waren Berlin, Cannes, Venedig, Karlo Vivary, Moskau, Sotschi,
Rotterdam, Oberhausen, Mannheim, Wien, Leipzig und Hof, regelrechte Tankstellen,
Oasen, in denen das ausgetrocknete Kamel sich mit Wasser für die
nächste Durststrecke füllte. Denn Baden-Baden war ja nicht München
oder Berlin, Frankfurt oder Hamburg, wo man drei-vier-mal die Woche ins
Kino gehen kann, um neue Filme zu sehen – und gottlob auch alte.
Natürlich hab ich auf den Festivals – es werden in den gut
30 Jahren, in denen ich das getrieben habe, mindestens hundert zusammen
kommen – natürlich hab ich auch manchen Schrott gesehen, Filme,
die man zum Glück wieder schnell vergisst, aber auch Filme, die nie
ins deutsche Kino oder Fernsehen gefunden haben.
Bei Festivals kann man sich natürlich auch überfressen, aber
man kann auch persönliche Entdeckungen machen. Vielleicht um der
Filmvöllerei einen Sinn zu geben, war ich immer auf das Ungewöhnliche,
Riskante, auch auf das grandios oder interessant Gescheiterte versessen,
auf das, was es eigentlich nicht geben konnte. Und da ich abermals das
Glück hatte, in dieser Zeit etwa zehn Jahre lang eine Filmkolumne
nach eigener Auswahl im ZDF-Kultur-Magazin „aspekte“ machen
zu dürfen, jeden zweiten Freitag, hatte ich auch auf den Festivals
immer einen gut. Und das hab ich schamlos ausgenutzt, auch unter dem mehr
oder weniger verschwiegenen Protest der Kollegen Redakteure. In Hof zum
Beispiel hab ich den bis dahin unbekannten Christoph Schlingensief vor
die Kamera geholt, in Cannes den international unbekannten Aki Kaurismäki.
Und ich werde nie vergessen, dass er mir das Interview nur unter der Bedingung
gewährte, dass ich ihm sagte, wie viel Bier Fassbinder täglich
getrunken habe.
Festivals bedeuten auch die Begegnung mit Filmverrückten anderer
Länder und Kontinente. Man sah sich in demselben Getümmel beim
Eingang in die Kinosäle – und man wusste: man gehörte
zu ein und derselben Rasse. Deshalb verbinde ich mit allen Tätigkeiten
in international besetzten Jurys der FIPRESCI die schönsten Erinnerungen:
unter Filmjournalisten aus aller Welt gibt es die gemeinsame Sprache Film;
vergleichbar ist diese Internationalität nur mit der von Musik –
aber da sind die Unterschiede der Kulturen vielfältiger als beim
Kino. Und so ehrenvoll und lehrreich es war, in sogenannten Grossen Jurys,
die über die Festivalpreise entscheiden, mit der wunderbaren Gong
Li, mit Andrzej Wajda, Friderik Thor Fridrikssen und Johanna ter Stege
zusammen zu sein: das waren andere, viel kompliziertere Debatten, weil
man, obwohl es auch hier um Filme und Kino ging, keine vergleichbar gemeinsame
Erfahrungen, kaum eine gemeinsame Sprache hatte.
Eine gute Schallplatte oder eine klasse CD hört man nicht nur einmal.
Und wie man jedes Mal auch bei derselben Musik etwas Neues hören
kann, so kann man jedes Mal bei demselben Film etwas Neues entdecken.
Glauben Sie niemals, schon alles gesehen zu haben. Wissen Sie immer, dass
das Kino immer wieder neu ist. Oder neu sein kann, könnte, sollte.
Und neu ist ein Film, den man vielleicht vor zehn oder dreissig Jahren
gesehen hat, auch deshalb, weil Sie, der Zuschauer, sich in diesen Jahren
selbst verändert oder erneuert haben. Das hoffe ich jedenfalls für
Sie.
„Der deutsche Film wird Kunst sein, oder er wird nicht sein.“
Das mutige, idealistische Manifest von Ludwigshafen 2005 lässt sich
vom Ansatz her durchaus vergleichen mit dem von Oberhausen, wo junge Filmenthusiasten,
von denen damals kein einziger einen langen Film gemacht hatte, für
sich den Anspruch erhoben, den neuen deutschen Film zu schaffen. Das mussten
die Ludwigshafener schon längst nicht mehr, den neuen deutschen Film,
und nur den, gibt es ja. Jetzt können wir, so lese ich das Manifest
von Ludwigshafen, jetzt können wir endlich sagen, was wir wollen:
Filmkunst. Zwischen Oberhausen und Ludwigshafen liegen inzwischen mehr
als 40 Jahre – und viel deutsche Filmpolitik: die es bis 62 nur
rudimentär gab: es gab den Filmpreis des BMI, aber keine wirkliche
Förderung. Erst die filmpolitischen Bemühungen der Anwälte&Regisseure
Alexander Kluge und Norbert Kückelmann haben zur Gründung des
Kuratoriums junger deutscher Film geführt, das minimale Fördergelder,
100.000 Mark waren schon eine Menge, zu vergeben hatte. Der Auswahlausschuss:
das waren ausschliesslich Filmkritiker. Als einer von ihnen zuständig
wurde für die Spielfilmproduktion der ARD und damit praktisch die
Seiten wechselte, verschärfte sich eine Dichotomie, die im Prinzip
von Anfang an bestand. Bei seinen Entscheidungen konnte der Auswahlausschuss
nicht unbeachtet lassen, wenn das eine oder andere ihm vorgelegte Projekt
schon eine Produktionszusage des Fernsehens hatte und womöglich nur
noch die materielle wie ideelle Unterstützung des Kuratoriums junger
deutscher Film brauchte, so gering dessen Mittel auch sein mochten. Denn
das war öffentliches Geld; das kam von den Steuerzahlern, also von
uns allen, und wir, die Mitglieder jenes Auswahlgremiums, mussten uns
verpflichtet fühlen, darauf zu achten, dass diese Mittel sinnvoll
angelegt wurden und nicht ins Nichts verpufften.
In diesem Augenblick – halten zu Gnaden – fing sie im Prinzip
schon an, die geistige, die ästhetische Korruption, die sich, wie
gesagt, verschärfte, als eines der Mitglieder sein Herrschaftswissen
einbringen und die Zusicherung geben konnte, dass dieses oder jenes Projekt
gute Chancen der Realisierung durch das Fernsehen habe. Das beste Gewissen
der Welt war auf seiner und unser aller Seite. Denn wir achteten ja darauf,
dass das uns anvertraute öffentliche Geld nicht sinnlos verschleudert
wurde. In den meisten Fällen hatten wir Glück, das Glück
nämlich, dass unter den uns vorgelegten Projekten – etwa 300
im Jahr – mehr Einstimmigkeit fanden, als wir Mittel zu verteilen
hatten: und das waren in den ersten Jahren des Kuratoriums um die sieben-
oder achthunderttausend Mark, mehr nicht. So weit, so schlecht. Denn im
Grunde waren wir doch angetreten, das Innovative, Neue, Ungewöhnliche
zu fördern, das ohne uns keine Chance auf Verwirklichung hatte. Doch
ich will und kann den Auswahlausschuss in den frühen Jahren des Kuratoriums
junger deutscher Film nicht schlecht reden. Denn wir haben uns nicht ausschliesslich
an wirtschaftliche Gegebenheiten gehalten beziehungsweise uns ihnen unterworfen.
Wir sind auch Risiken eingegangen. Ich will nur ein Beispiel erzählen.
Ein junger Cineast, der den einen und anderen interessanten Text über
Film oder auch Popmusik veröffentlicht und mit den bescheidenen Mitteln,
über die er und sei es als Student einer Filmhochschule verfügen
konnte, ein-zwei Kurzfilme gemacht hatte, beantragte die Förderung
eines langen Spielfilms, ohne uns auch nur die Spur einer Kalkulation
und eines Drehbuchs vorzulegen; er hatte nicht einmal eine Art wenigstens
von Exposee geschrieben, sondern uns, den sieben Mitgliedern des Gremiums,
nur sieben Exemplare eines Romans geschickt mit einem Brief, in dem er
erklärte: diesen Roman wolle er zum Film machen. Wir haben den Antragsteller
eingeladen, uns sein Projekt wenigstens mündlich zu erörtern.
Und er kam und erklärte uns mit seiner ewig, das heisst bis heute,
schleppenden Zunge, was er in seinem Brief schon geschrieben hatte: er
wolle diesen Roman zum Film machen, über die Filmrechte könne
er verfügen, er sei mit dem Romanautor befreundet. Wir haben ihm
vertraut, und er hat den Film gemacht, der genau so hiess wie der ihm
zugrunde liegende Roman: DIE ANGST DES TORWARTS BEIM ELFMETER. Ich werde
mich hüten zu sagen, dass sonst aus Wim Wenders nichts geworden wäre.
Aber er hat das Risiko, das sieben mehr oder weniger geduldig zuhörende
nur wenige Jahre ältere Filmjournalisten mit öffentlichem Geld
eingegangen sind, reich belohnt.
Warum erzähle ich das? Nicht um mir selbst und meinen Kollegen von
damals nachträglich auf die Schulter zu klopfen. Sondern weil ich
mich und Sie und alle, die in diesem Land – womit ich nicht nur
das Bundesland Baden-Württemberg meine – mit Filmförderung
zu tun haben, zu fragen, ob dergleichen heute noch möglich wäre.
Meine persönlichen Erfahrungen sprechen jedenfalls dagegen. Ich hatte
in Jahren weit diesseits des Kuratoriums junger deutscher Film die Ehre,
zuerst als Stellvertreter eines Kinomachers dem Prüfungskomitee der
Filmförderungsanstalt und Jahre später dem Auswahlausschuss
der Filmförderungsinstitution eines Bundeslandes anzugehören.
Deren Existenz und Arbeit sind durchaus geadelt durch eine ganze Reihe
von Filmen, deren Produktion von dieser Anstalt gefördert worden
sind und die es ohne Existenz und Arbeit dieser Institution nicht gäbe.
Trotzdem bin ich nach zwei, oder waren es drei?, Sitzungen aus diesem
Gremium zurückgetreten. Warum? Weil ich bei der nachträglichen
Bilanzierung meiner Arbeit im Vergleich zum Ergebnis eines nicht übersehen
konnte: keines der von mir favorisierten Projekte hatte den Zuschlag des
Gremiums gefunden und keines der von den Kolleginnen und Kollegen mehrheitlich
positiv verabschiedeten Projekte hatte auf meiner Liste gestanden. Da
meine Mitwirkung nicht die geringste Bedeutung hatte, war sie überflüssig.
So unbedeutend für die Entscheidungen wie etwa auch während
einer sehr kurzen Beteiligung im Ausschuss der Filmbewertungsstelle der
Länder in Wiesbaden, kurz FBW genannt. Nun könnte man argumentieren,
es sei demokratisch-pluralistische Tugend, Mehrheitsentscheidungen zu
akzeptieren. Eine solche Betrachtungsweise setzt allerdings voraus, dass
es in Fragen der Kunst eine pluralistische Tugend geben kann. Ich bin
so frei, das nicht zu glauben. In der Ästhetik herrscht keine Demokratie;
wo kämen wir da hin…
Halten wir uns an die Fakten. In allen Filmförderungs-Gremien aller
Länder der Bundesrepublik Deutschland haben Fernsehredakteure das
Sagen. Man kann es ihnen nicht verübeln, dass sie fördern, was
sie gern produziert sehen möchten: das ist ihr Job – wie es
in jenen fernen Tagen des Kuratoriums junger deutscher Film der Job des
zum Fernsehproduzenten arrivierten Filmkritikers war. Aber: damals wie
heute geht es bei dem Fördergeld mindestens zu grossen Teilen um
öffentliches Geld, um Geld der Steuerzahler, Geld aus den Kassen
des Staates, das von den Fernsehanstalten auf die eigenen Mühlen
geleitet wird. Wer daran Anstoss nimmt, muss erst recht anstössig
finden, dass mittlerweile die Institution namens Deutsche Filmakademie
mit dem deutschen Filmpreis, also Staatsknete, nichts anderes tut als
mit öffentlichem Geld zu prämiieren, was den Berufsvertretern
dieser Institution behagt…Nichts gegen ALLES AUF ZUCKER, nichts
gegen DAS LEBEN DER ANDEREN. Das sind ordentliche, achtbare Filme. Aber
sind sie auch Werke, die das Kino – ausser an den Kassen –
wirklich voran bringen, die das Sehen befördern, die Gefühle,
die Träume, Ängste, Hoffnungen? Die uns verändern können.
Die dem Leben einen neuen Sinn geben.
Das Jahr 2006 wird schon als ein Glücksjahr des deutschen Films ausgerufen.
Gewiss: in Berlin, bei der Berlinale, liefen mehr deutsche Filme als je
zuvor. Aber in Cannes wurde kein einziger ins Wettbewerbsprogramm genommen.
Ich teile nicht die Ansicht des wutentbrannten Freunds Volker Schlöndorff,
der von einem „kalten Krieg“ zwischen Berlin und Cannes gesprochen
hat. Ich meine vielmehr, dass die derzeitigen deutschen Filme, so gelungen
sie im einzelnen auch sein mögen, keine Neuigkeiten sind. Weil sie
angepasst sind. Weil sie das Wagnis scheuen, eine bisher ungeübte
Sprache zu sprechen. Die nicht die Forderung an ein Werk der Kunst, sei
es der Musik, der Malerei, der Belletristik oder des Films entsprechen,
nämlich der Forderung: setze mich in Erstaunen. Im Vorfeld des diesjährigen
Deutschen Filmpreises ist beklagt worden, dass sich unter den nominierten
Filme keiner mit einem Produktionsbudget von mehr als 1,7 Millionen Euro
befand. Und dass – ebenso wie das im Vorjahr bei dem Film DER UNTERGANG
war – sich unter den Nominierten keine Produktion der Constantin
fand, der zur Zeit wohl kommerziell erfolgreichsten deutschen Produktionsfirma.
Das mag Gründe haben, die sich unsereins verschliessen, weil wir
weder der Akademie angehören, und das mit Absicht, noch Zugang zum
inneren Zirkel haben. Auf jeden Fall ist die Ironie des Schicksals hier
nicht zu übersehen: der Constantin-Chef Bernd Eichinger war derjenige,
ohne dessen Drängen und Einsatz diese Akademie nicht zustande gekommen
wäre. Mag sein, dass die Mitglieder sich fürchten, wegen der
Berücksichtigung der Constantin der moralischen Korruption verdächtigt
zu werden; ich weiss es nicht. Von der Constantin – ich fahre fort
mit der erwähnten Meinungsäusserung im Vorfeld des Filmpreises
–, von der Constantin wurde unter den Nominierten der Film ELEMENTARTEILCHEN
vermisst. Nun ist das gewiss ein interessanter Film, aber ELEMENTARTEILCHEN
ist auch ein feiger Film. Auch wenn ich im Prinzip nicht viel von dem
Vergleich eines Films mit dessen literarischer Vorlage halte, weil Roman
und Film zwei total verschiedene Sprachen sprechen, kann ich bei ELEMENTARTEILCHEN
nicht übersehen, dass der Film weit hinter dem Mut, der Brisanz,
der Anstössigkeit des Romans zurück bleibt: er setzt mich nicht
in Erstaunen und bewirkt weder Begeisterung noch Ekel. Die Chance ist
nicht genutzt worden. Und sie wird so lange nicht genutzt werden, so lange
es genügt, dass ein Film ordentlich gemacht ist und beim Publikum
ankommt.
Zwischendurch noch einige persönliche Erfahrungen aus dem Umgang
mit dem Verhältnis von Literatur und Film. Es gehört zu den
Wahrheiten der Filmgeschichte, dass der französische Roman dem französischen
Film voraus war: der Nouveau Roman schrieb schon eine filmische Sprache,
als noch niemand an die Nouvelle Vague dachte, die nicht zuletzt auf den
Schultern von Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Raymond Queneau steht,
dessen Roman „Zazie“ deutlicher als alle anderen Filme dieser
Epoche für Louis Malle geradezu das Drehbuch lieferte zu ZAZIE IN
DER METRO, wie der Film dann in Deutschland hiess. Eine andere Begegnung
war noch erstaunlicher. Der britische Romancier Thomas Hardy hat 1891
den Roman „Tess of the d’Urbervilles“ veröffentlicht,
den Roman Polanski 1979, also nahezu hundert Jahre später, unter
dem Titel TESS mit Nastassja Kinski in der Hauptrolle verfilmt hat. Als
ich seinerzeit den Roman von Thomas Hardy gelesen habe, war ich verblüfft,
wie sehr dieser Roman schon Film war – und das etliche Jahre vor
der Erfindung der Lumières und der Skladanowskys.
Doch zurück zur Überschrift. Wenn es in der gegenwärtigen
Situation einem von vornherein nicht mehrheitsfähigen und dem Fernsehen
genehmen Film gelingt, gefördert zu werden, können wir getrost
von einer Ausnahme und einem Glücksfall sprechen… (Ein Beispiel,
von mir ausgewählt, werden Sie nachher sehen können.)
Muss das so sein? Ich habe kein Rezept, und mein Zorn und meine Arroganz
reichen nicht hin, einen mehrheitsfähigen Vorschlag zu machen; vielleicht
muss man dazu politisch denken. Aber… wenn es so weitergeht wie
bisher, wird der Film in Deutschland immer wieder dieselbe Suppe aufkochen,
gewiss hier und da ein bisschen anders gewürzt. Es lassen sich so
durchaus auch wirtschaftliche Erfolge erzielen. Doch was Filmkunst ist
oder besser: was sie sein könnte und sein sollte: das bleibt auf
der Strecke. Da können die Idealisten von Ludwigshafen auch in den
kommenden Jahren noch so oft wiederholen: „Der deutsche Film wird
Kunst sein, oder er wird nicht sein.“
Das gegenwärtige System der Filmförderung zumal durch die Förderungsanstalten
der Bundesländer hat nicht nur eine ganze Reihe durchaus beachtlicher
Filme hervorgebracht, sondern auch mindestens Ansätze einer mittelständischen
Filmindustrie mit Produktionsfirmen, die nicht mehr, wie in den ersten
Jahren des Jungen Deutschen Films, oft nur für eine einzige Filmproduktion
gegründet werden und dann still verscheiden. Nein, obwohl von Prosperität
der Filmwirtschaft in Deutschland zu sprechen, gelinde gesagt, ein milder
Wahnsinn wäre, wäre es noch wahnsinniger, ihre Existenz aufs
Spiel zu setzen, eine Existenz, die viele kleine und mittlere Produktionseinheiten
nicht zuletzt dem vorherrschenden Förderungs-System verdanken. Auch
wenn das hier und da zu der Absurdität der Einrichtung von Zweigbüros
in Bundesländern geführt hat, in denen keineswegs der Hauptsitz
der Firma liegt, und das nur zu dem Zweck, Förderungen auch in anderen
Bundesländern beantragen zu können. Mich erinnert das, nebenbei,
an die berühmten Briefkastenfirmen in Liechtenstein.
Trotzdem: es wäre ruinös, das derzeitige System abzuschaffen.
Aber – und das ist meine feste Meinung – es bedarf der Ergänzung.
Und die könnte etwa darin bestehen, dass allüberall, wo gefördert
wird, eine bestimmte feste Summe einem einzelnen Kurator anvertraut wird,
der dann auch für seine Entscheidung gerade zu stehen hätte
und sich nicht hinter der zur Verschwiegenheit verpflichteten Gremienpluralität
verstecken könnte. Eine solche oder ähnliche Einrichtung sollte
ausdrücklich nicht-mehrheitsfähige Projekte fördern. Das
erst würde, ich wage das Wort, der Demokratie-Ferne der Kunst entsprechen,
und wir können uns das leisten, weil wir in einer passablen Demokratie
leben. Ein guter Freund und Filmemacher, dem ich von meiner Idee erzählte,
kam spornstreichs auf den Begriff des feudalistischen Mäzenatentums.
Mir ist das Wort egal, Hauptsache: die Sache stimmt. Oder lassen Sie mich
es mit einem absichtsvoll widersprüchlichen Motto des Fürsten
von Salina sagen, wie es bei Lampedusa zu lesen und bei Visconti zu hören
ist, im GATTOPARDO, dem Leoparden. Die Dinge müssen sich ändern,
so ungefähr geht der Wahrspruch der fürstlichen Familie, die
Dinge müssen sich ändern, damit sie bleiben können, wie
sie sind.
„Der deutsche Film wird Kunst sein, oder er wird nicht sein.“
Einer der Formulierkünstler dieses Satzes aus dem Manifest von Ludwigshafen
ist heute unter uns: Fred Kelemen. Soviel er im Ausland gilt, in Lateinamerika,
Osteuropa, Asien, so unbekannt ist er, der Berliner mit ungarischem Hintergrund,
in Deutschland. Er hat bisher nur eine Handvoll Filme drehen können,
VERHÄNGNIS, FROST, ABENDLAND, GLUT. VERHÄNGNIS, 80 Minuten in
nicht viel mehr als zwei Dutzend Einstellungen, war der Abschlussfilm
des Studenten an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und erhielt
auf Anhieb den Preis der internationalen Filmkritik beim Festival in San
Sebastian und heimste weitere Preise ein auf vielen anderen Festivals
der Welt, Toronto und Bogota, Kiew und Riga, und obwohl der Film beim
London Film Festival und im Anthology Film Archive in New York höchste
Aufmerksamkeit fand, brauchte Kelemen drei Jahre, um seinen zweiten Film
FROST zu finanzieren. Der ist in Deutschland fast ebenso unbekannt geblieben
wie der Film ABENDLAND. Während es abermals Preise auf internationalen
Festivals gab und Retrospektiven des schmalen Werks in Lissabon und Belgrad,
Cambridge und Athen, Brüssel und Oslo, New York und Moskau, Buenos
Aires und Istanbul. Unter den deutschen Filmregisseuren der Gegenwart
ist – ich sage es noch einmal – Fred Kelemen bei den Cineasten
der Welt der bekannteste. VERHÄNGNIS ist praktisch ohne Budget entstanden,
FROST, mehr als zwei Stunden lang, war eine Produktion des Kleinen Fernsehspiels
mit einem Etat von 200.000 Mark, und ABENDLAND, eine deutsch-portugiesische
Koproduktion war mit einem Etat von 2,3 Millionen Mark (Mark und nicht
Euro) die teuerste Produktion Kelemens. Davon waren 700.000 DM vom Deutschen
Filmpreis, der Rest kam von den Filmförderungen Berlin-Brandenburg
und Sachsen sowie vom WDR. GLUT, der Film, den Sie nachher sehen werden,
wurde erst in der Postproduktion gefördert von den Filmförderungen
Baden-Württemberg und Hessen. Das Gesamtbudget betrug weniger als
100.000 Euro. Ergänzend dazu sollte man wissen, dass GLUT in Riga
gedreht wurde, als Kelemen dort einem Lehrauftrag nachkam – er,
der auch Kameramann aller seiner Filme ist, er hat Lehraufträge an
vielen Filmschulen der Welt. Die Dialoge in GLUT sind lettisch und russisch,
russisch in der Hauptsache ist auch die Musik. Nur durch eine Ausnahmeregelung
war zu erreichen, dass der Film von der Filmförderungsanstalt als
deutscher Film anerkannt wurde, da Kelemen sich geweigert hat, eine deutsch
synchronisierte Fassung vorzulegen, was als Voraussetzung der Anerkennung
als „deutsch“ gilt. So absurd geht es bei uns zu, dass Filme
von Ken Loach zum Beispiel mühelos auch als deutsche Filme gelten,
weil es neben einer deutschen Produktionsbeigabe auch eine deutsch synchronisierte
Version der Filme gibt.
Für mich geht von den Filmen Kelemens ein grosser Zauber aus, ein
Zauber, der hungrig macht nach Zeit, die in den Bildern und Tönen
wie eingeschlossen, konserviert ist und sich mit dem Film öffnet
zu einer weiten, unendlichen Landschaft der Vorstellungen, Gedanken und
Gefühle. Spröde hat man sie genannt, sperrig, schwarz, tiefschwarz,
diese Filme. Nichts davon trifft zu. Was ungewöhnlich ist, ist nicht
fremd, sondern anders als in anderen Filmen; und es ist hier und überall
anders, in diesen Filmen und in dieser Welt. Was verschüttet ist,
zugekleistert, verklebt, verdrängt: in diesen Filmen wird es geöffnet,
offen gelegt, befreit, entsperrt. Bitte sehen und hören Sie so auch
den Film GLUT, einen Film, dessen Schwarzweiss das claire-obscure, das
Geheimnisvolle, nur scheinbar Undeutliche in Anthrazit kleidet, vom Dekor
bis zu den Kostümen, und in jeder Einstellung wieder neu in der Lichtregie
und in der Regie der Schatten. GLUT ist ein Film der Aufmerksamkeit, der
die Aufmerksamkeit des Betrachters reich belohnt. Sie haben zum Glück,
möchte ich sagen, und ich habe dafür meine Gründe, nicht
die Möglichkeit, sich diese 85 Minuten im Schnelldurchlauf anzusehen.
Bitte bleiben Sie geduldig und bleiben Sie aufmerksam. Das sind Sie sich
selber schuldig.
Vorgetragen in Ludwigsburg am 16. Mai 2006
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