» Die Nacht singt ihre Lieder

RALF SCHENK über das Wechselspiel von Düsternis und Hoffnung in den Filmen des Fred Kelemen
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Als Motto seines ersten großen Spielfilms "Verhängnis" (1994) wählte Fred Kelemen einen Satz des Dalai Lama: "Die Entfernung zwischen unserem jetzigen Leben und einem Höllendasein kann so kurz sein wie ein einziger Atemzug." Diese Entfernung war in "Verhängnis" freilich auf ein Minimum geschrumpft, ja vielleicht nicht einmal mehr vorhanden: Kelemen folgte in langen Einstellungen den Wegen eines russischen Straßenmusikanten und seiner Frau, die sich durch ein von Drogensüchtigen, Säufern und Obdachlosen bevölkertes städtisches Labyrinth schlagen, um am Ende, in einem Wald, wieder zueinander zu finden. Ein Film wie ein Albtraum, mit grobkörnigen, impressionistischen Bildern, durchsetzt von Wortfetzen und den Geräuschen einer scheinbar immerwährenden Dunkelheit.

Auch die anderen drei Arbeiten des Regisseurs kreisen um Einsamkeit und Erniedrigungen, Ausbruchsversuche und jene seelischen Qualen, die sich die Helden oftmals selbst zufügen. Bereits die Titel "Frost" (1997), "Abendland" (1999) oder "Glut" (2005) verweisen auf den Charakter der Filme als Nachtstücke. Auf die Frage, warum er so viel Elend vorführe, hatte Kelemen schon vor Jahren geantwortet, seine Filme seien nicht elender als unsere Realität und zeigten, "in welcher Umgebung wir uns bewegen und durch welche Welten wir unseren Weg gehen". Tatsächlich sind sie eine verdichtete Leidenserfahrung, voller Trauer über die Unfähigkeit zum Glücklichsein. Für den Regisseur geht dies einher mit einer Abwendung der Menschen von ihren geografischen und spirituellen Wurzeln. Das russische Paar in "Verhängnis" sieht sich in Berlin gestrandet; die junge Frau in "Frost" findet keine Spuren ihrer ostdeutschen Heimat mehr. Nun erweisen sich ihre Aufbrüche als Bewegungen im Kreis: Das Ende ist der Anfang ist das Ende.

Kelemens Filme, die seit Mitte der 1990er-Jahre wie erratische Blöcke in der deutschen Kinolandschaft stehen, sind hierzulande nicht sehr bekannt. Anders im Ausland, wo sie von Festival zu Festival gereicht und mitunter sogar als "einzigartige visionäre Leistung" (Susan Sontag) gerühmt worden sind. Kelemens Bilder wollen nichts erklären und beweisen, sondern schaffen Raum für die Assoziationen der Zuschauer. In "Glut" beispielsweise tritt zunächst ein mit Selbstmördern befasster Polizeiinspektor auf, der in einem langen Monolog darüber reflektiert, dass sich die Menschen immer erst dann um den anderen kümmerten, wenn es zu spät sei: "Wir haben uns verirrt. Etwas in uns ist zerrissen." Ein paar Szenen später beobachtet die Kamera spielende Kinder am Flussufer. Der Blick verweilt lange in dieser Totalen und lenkt die Gedanken geradezu in die mögliche Zukunft dieser Kinder: Werden sie so enden wie jene junge Frau, die sich in der Nacht zuvor von der Brücke gestürzt hatte? Gehören auch sie zu denjenigen, die von ihrem "Schöpfer verlassen wurden und jetzt zugrunde gehen in einer Welt ohne Gnade"?

Auch der über dreistündige Film "Frost", dem ein Kritiker die "Offenbarung von Schönheit und Wärme inmitten der polaren Trostlosigkeit" bescheinigte, enthält immer wieder solche Korrespondenzen von visueller Kontinuität und gleichzeitigem gedanklichen Abschweifen. Unvergesslich bleibt der Moment, in dem sich die gedemütigte Frau auf einem Kettenkarussell dreht und plötzlich ein Gefühl von Freiheit und Weite entsteht. Dass die Kamera uns ein ununterbrochenes minutenlanges Mitfliegen gönnt, gehört zu jenen Partikeln des Prinzips Hoffnung, die in Kelemens Filmen trotz aller Düsternis immer wieder aufscheinen.
Magische Bilder - Die Filme des Fred Kelemen im Filmmuseum Potsdam ab heute 19.30 Uhr; im Arsenal ab So 21 Uhr.Seine Filme sind nicht elender als die Realität: Regisseur Fred Kelemen.

Ralf Schenk, Berliner Zeitung, 22.03.2007

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