» Das Dunkel bleibt | Text: Ralf Schenk
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DIE SCHWEBENDEN BILDER DES KAMERAMANNS FRED KELEMEN


Auf die Frage, was ihm der Kameramann Fred Kelemen bedeute, antwortete der ungarische Regisseur Béla Tarr, sie hätten beide nicht nur das gleiche Filmverständnis, sondern auch einen ähnlichen Blick aufs Leben: „Ich weiß, dass ich mich immer auf ihn verlassen kann, bei jeder Fahrt, jedem Schwenk, jeder Veränderung des Bildausschnitts. In seiner praktischen Arbeit gibt es nichts, was meinen Intentionen zuwiderläuft.“

Tarr und Kelemen kennen sich seit 1990. Damals hielt Tarr erste Vorlesungen an der Berliner Film- und Fernsehakademie; Kelemen war einer seiner Studenten. Aus der Bewunderung des Schülers für den Lehrer und dessen Oeuvre wuchs bald eine intensive Arbeitsfreundschaft: 1995 drehte Kelemen als Kameramann „Journey to the Plain“, Tarrs knappen, lyrischen Epilog zum „Sátántangó“; zehn Jahre später begann das gemeinsame Abenteuer „Der Mann aus London“; und im vorletzten Jahr fotografierte Kelemen die zweieinhalbstündige, nur aus 29 Einstellungen bestehende Filmparabel „Das Turiner Pferd“ (vgl. fd 6/12).

Kelemen hat während dieser Arbeit ein Tagebuch geschrieben, das er „Chronik einer Genesis der Dunkelheit“ nennt. Von der ersten, aus einer langen schwarzen Einstellung folgenden Aufblende auf ein Pferd im Sturm bis zur letzten Szene, in der der Kutscher und seine Tochter „wie hingehaucht auf den schwarzen Grund einer allumfassenden Dunkelheit“ sitzen, auf Tod und Erlösung warten: „Dann schwindet das Licht, als würden auch sie verlöschen. Das Dunkel bleibt. Schwarz.“ Schwarz und Weiß und zahllose, die Farbe Grau meisterhaft ausforschende Zwischentöne prägen die Bilder des Films, der nichts weniger beschreibt als die Zurücknahme der Schöpfung: In „Das Turiner Pferd“ stellt Gott alle Weichen auf Tod und Verderbnis, um – vielleicht – einen neuen Anfang zu ermöglichen. Kelemens Kamera gleitet an den Körpern von Tier und Menschen entlang, unerhört behutsam, fast wie ein Balsam für die geschundenen und sich selbst schindenden Kreaturen. Nichts von deren Geheimnissen wird durch überhastete Handlungsabläufe, durch voyeuristische Zwischenschnitte und eilige Montagen preisge geben: Jeder Kamerablick ist zugleich intim und zauberisch und von verschwiegener Distanziertheit.

Kelemen (Jahrgang 1964) studierte Malerei, Musik, Philosophie, Religions- und Theaterwissenschaft, bevor er sich dem Kino zuwandte. Das breite Interesse an Kunst und Welterkundung spiegelt sich seitdem in seinen einprägsamen, oft wie schwebenden Filmbildern: nicht nur in denen für andere Regisseure, sondern vor allem auch in denen für seine eigenen Regiearbeiten. Kompromisslos insistiert er darauf, dass Bild und Inhalt eine Einheit eingehen müssten: „Ein Bild ohne Inhalt ist nichts. Wenn ein Bild vermag, das, was gerade in mir vorgeht, zu fassen und auszudrücken, dann bleibe ich dabei.“ Kelemens Bilder, die er für Filme wie „Verhängnis“, (1994), „Frost“ (1998), „Abendland“ (1999) und „Glut“ (2005) fand, sind mit jenem Thema eng verbunden, das ihn am meisten umtreibt: „Ich zeige die Menschen in ihrer Verlorenheit, in einer von ihnen geschaffenen unheimlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft also, in der sie nicht heimisch werden können, in der sie nichts von dem finden können, was ihrer Sehnsucht entspricht, was sie von ihrem tiefen Gefühl des Mangels erlösen könnte.“ Angefangen mit seinem Studentenfilm „Kalyi – Zeit der Finsternis“ (1991-93), entwirft er Geschichten der Nacht, selbst wenn sie am Tag spielen.

Die äußere Landschaft, in die er seine Figuren stellt, erweisen sich stets als Ausdruck ihrer Seele, ihrer Ängste und Zweifel, aber auch ihrer Hoffnung auf Liebe und Geborgenheit. Baumlose Gegenden, kalte großstädtische Straßen, triste Kneipen und Bars, unheimliche, unheimelige Wohnungen: Die Szenerie macht den Zustand der in ihr Schicksal Geworfenen und von ihm Getrie benen transparent. Dabei sind diese Spielorte keine gebauten Symbole, sondern immer authentisch: eine Realität, die von der Kamera in unendlich wirkenden Fahrten erkundet, vielfach auch erlitten wird. So ist ein Filmwie „Frost“ geradezu beherrscht „von diesem langen Unterwegssein, von diesem langen Gehen, ohne dass man je an irgendeinen Punkt ankommt“: eine Odyssee „aus einer Zwischenzeit, in der das Leben erstarrt zu sein scheint“. Keiner von Kelemens Filmen, und da trifft er sich sehr mit Béla Tarrs „Turiner Pferd“, aber auch mit früheren Werken des ungarischen Regisseurs, hält am Ende eine wohlfeile Rettung, eine tröstliche Erlösung parat – doch gerade dadurch regen sie zum Nachdenken darüber an, solidarischer miteinander umzugehen, den „Anderen neben Dir“ nicht gering zu schätzen, ihn nicht zu quälen oder als menschlichen Sperrmüll ins Abseits zu verbannen.

Hin und wieder arbeitet Kelemen als Kameramann auch für andere Regisseure. Für „Tatau Samoa“ (2000) begleitete er die Regisseurin Gisa Schleelein auf eine Entdeckungsreise in die polynesische Tätowierungskunst, ertastete mit der Kamera Zeichnungen auf menschlicher Haut und suchte nach deren Quellen in der Wirklichkeit; eindrücklich beispielsweise eine Totale vom Wellenspiel des Pazifik und der darunter zu ahnenden Schatten von Meerestieren, die sich die Samoaner als Vorlage für ihre Hautverzierungen nehmen. Kelemens Kamera folgt den Fingerfertigkeit der Tätowierer; vor den Augen der Zuschauer entstehen fremde und schöne Kunstwerke, die immer auch mit Blut und Schmerzen verbunden sind. Der Film interessiert sich für konkrete, sinnlich erfahrbare Arbeitsprozesse – und ist trotz Farbe und exotischem Ambiente damit gar nicht so weit von „Das Turiner Pferd“ und dessen minutiöser Beschreibung physischer Abläufe entfernt.

Die Nachricht, dass sich Kelemen 2006 als Kameramann für Rudolf Thomes „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ verpflichten ließ, mutete dagegen im ersten Moment verwunderlich an: Der grüblerische, eher für die dunkle Seite im Menschen prädestinierte Kelemen und der sinnenfrohe Hedonist Thome – wie konnte das zusammen gehen? Tatsächlich gönnte sich Kelemen einen Abstecher ins sonnendurchflutete Brandenburger und an Ostseelandschaften, mit einzelnen herausgehobenen Farbtupfern von Blau, Grün und Rot, doch wie in seinen eigenen Filmen geriet das thomesche Refugium trotz aller scheinbaren Durchschaubarkeit bald brüchig und abgründig. Die alten Baumalleen, die Kelemen wie ein schützendes Dach über den Figuren des Films fotografierte, erweisen sich nur als letzter Zufluchtsort auf dem Weg ins Nichts. Auch hier kreist die Kamera mit großer Zärtlichkeit um Frauen und Männer, interessiert sich vor allem für deren Mienenspiel und Blicke: auf Mitmenschen, die Natur und die von eigener Hand geschaffenen Gemälde – die Hauptfiguren des Films sind Künstler. Als starke optische Metaphern bleiben Signale der Verzweiflung im Gedächtnis haften: erst ein Bett aus lauter 500-Euro-Scheinen, ein Preisgeld, das der Maler wie einen Teppich um sich gebreitet hat und das ihn doch nicht glücklich macht; schließlich ein un schuldiges weißes Blatt mit einem blutig roten Kreuz, Zeichen des selbst bestimmten Endes.

Kelemen über seine Arbeit als Kameramann: „Wenn ich für andere Regisseure die Kamera führe, mische ich mich nicht in die Schauspielführung ein oder in sonst irgendetwas. Ich äußere mich inhaltlich auch nur insoweit zum Buch, als der Regisseur das möchte. Ich bin dann wirklich nur Kameramann. Das ist sehr erholsam.“ Und: „Wenn ein Regisseur weiß, was er will, wenn er entweder sehr klare Vorstellungen von Bildern hat, die er mir sagt, sodass ich sie für ihn auch finden kann, oder wenn er aus bestimmten Gründen meine visuelle Vorstellung will und zulässt, was ich anbiete, arbeite ich gern als Kameramann. Dann bereitet es Freude.“ Es sieht alles danach aus, als wäre Kelemen sowohl mit Tarr als auch mit Thome zu guten Übereinkünften gekommen. Derzeit steht Fred Kelemen wieder an der Kamera, bei einem Film eines israelischen Regisseurs. Wir sind gespannt.

Ralf Schenk, Filmdienst Nr 9, 26. April 2012

Hinweis: „Das Turiner Pferd“ (Verleih: Basis) läuft aktuell noch in mehreren Programmkinos; der aktuelle Spielplan ist auf www.film-dienst.de einzusehen.
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