...........................................................................................

fred kelemen

Ein Schwan auf dem Kohlenhaufen

 

¦ andrás forgách

Die Filme von Fred Kelemen sind keine politischen Manifeste. die durch den Zustand der Welt erweckte Entrüstung verdichtet sich in ihrer Form.

Die Filme von Fred Kelemen liegen auf der Hand, wie man in der Branche sagt; sie wenden keine Tricks an, sie reden nicht etwas schön, sie machen einem nichts vor, sie sagen vom ersten Moment an unverhüllt, in welche Welt man mit ihnen untertauchen muss. Ja, untertauchen, denn diese Filme tauchen unter, versinken, stürzen unvermeidlich in die Tiefe und steigen nie auf. Gehen die Figuren nicht geradeaus, so bewegen sie sich meistens abwärts, ins Souterrain, in Kellerräume, in Kohlenspeicher, auf einen Kai, oder sie halten sich zumindest im Erdgeschoss, auf der Straßenebene auf, oder sie werden - wie in jenem unvergesslichen Moment von Verhängnis , dem ersten größeren Werk von Kelemen - unter einem Tisch hindurchgezogen und über den Fußboden geschleift. Die Mobilität oder das Aufsteigen in gesellschaftlichem Sinn und damit eine Art Erlösung taucht in diesen Filmen nicht einmal andeutungsweise auf; auch wer nach oben strebt, scheint hier nach unten zu gehen und wird allenfalls an einem Glockenseil hochgezogen oder entschwindet über die steile Treppe eines Bordells; wir sehen bewusst und immer wieder eine Unterwasserwelt, eine erkaltete, völlig erstarrte Welt, die auch von der repetitiven, sich aber trotzdem ständig verwandelnden Tonuntermalung meist nur aus der Ferne erreicht wird; sie ist immerfort da, ohne zu beginnen oder zu enden, und wir hören mit einem tauben Gefühl, aus der Ohnmacht erwachend, die Töne der menschlichen Welt, in die auch die Töne der Natur, Möwengekreisch, Hundegebell, Windesbrausen und das Geknatter von Spielcasinogeräten sickern, auch Letzteres in der Form eines Naturphänomens, und die artikulierten oder kaum artikulierten Sprechtöne als Kneipengerede, Bekenntnisse und Erklärungen – auch deshalb ist der immer wiederkehrende Standort der Filme die Kneipe mit den reglos dasitzenden Kunden, diesen erstarrten, versteinerten Figuren, die katatonisch ihre Bewegungen und ihre Mimik wiederholen. Die Bewegung wie auch das Vordringen der Hauptfiguren der Filme ist virtuell; in Wirklichkeit treten sie auf der Stelle, was an sich nichts Besonderes wäre, könnte Kelemen dieses Auf-der-Stelle-Treten nicht durch die paradoxe Dynamik seiner Geschichten (die Fäden drehen sich oft wie ein Möbiussches Band im Kreise) und durch die Sprache seiner Filme glaubhaft machen, besser gesagt einmal durch hypnotisch in die Länge gezogene, einmal durch verblüffend brutale Szenen die Zuschauer überzeugen. Damit meine ich nicht die langen, ungeschnittenen Fahrten oder die unendlich langsamen Schwenks, deren Copyright keineswegs bei Fred Kelemen liegt; dies ist eine Filmsprache, die wir in den Filmen von Tarkowskij, Tarr und anderen längst gelernt und schätzen gelernt haben, wie auch die erbarmungslose Wetterlage, die in den Filmen herrscht. Kelemen gebraucht aber mutiger die Methode der Filmnotizen, des Eingriffs in seine Filme, seine Filmsprache bedient stets die eigenen filmsprachlichen Gedanken, die Bilder und Einstellungen reflektieren immer auf seine kinematografischen Vorstellungen; es sind Film-Filme, die verkommenen und Weltuntergangsorte sind lediglich Kulissen dieser kinematografischen Denkweise, sie existieren nur für die Filme: ihre filmische Natur ist ein sehr wichtiger dramaturgischer Beweggrund der Geschichten. Dass daraus kein L'art pour l'art wird, das garantiert auch die angestaute Gemütserregung des Regisseurs, seine Empörung über den Zustand der Welt (in einem Interview spricht er aufgebracht über die Aussichtslosigkeit und Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern); doch seine Filme reden trotzdem nicht von dieser ungemeinen Spannung oder vom Protest gegen den Zustand der Welt. Diese Spannung, diese brodelnde Empörung verdichtet sich in der Form der Filme. Es sind keine politischen Manifeste, zumal sie von Anfang an dreist und gnadenlos so tun, als gäbe es hinter der Wirklichkeit, die wir sehen, keine andere Wirklichkeit; es gibt keine Utopie, wie es auch keine Vergangenheit gibt, keine tiefere Geschichte hinter der Story, die Oberfläche ist das Gleiche wie die Tiefe, sie quasselt nicht, sondern brüllt, und dahinter schweigt nicht die Tiefe – Oberfläche und Tiefe pressen sich mit elementarer Wucht zusammen. Verschwiegene, wortkarge Männer gehen in Kelemens Filmen umher, sie suchen keine Zusammenhänge und keinen Sinn der Sache, sondern ihren Platz. Ihre Stille dröhnt. Wie der Mann, der am Anfang einer seiner Filme im Neonlicht eines Flurs sitzt und auf einmal anfängt, eine in makellos weißer Bluse und schwarzem Rock mit frisch gekochtem Kaffee herbeikommende Sekretärin zu drangsalieren. – Es muss jedoch unbedingt betont werden: es sind keine pessimistischen Filme und sie sind nicht düster, weil der Regisseur meint, eine Art Protestfilm machen zu müssen. Er drehte immer solche Filme und wird auch immer solche drehen, es interessiert ihn nichts anderes. Das ist die Monomanie von Kelemen. Er ist ein Filmemaler. Er malt mit Ton und mit Bild und auch mit dem Gesicht, den Händen und dem Körper seiner Schauspieler, die bei ihm meistens Schauspieler zum einmaligen Gebrauch sind.

Mischt sich zufällig einmal ein Faden in seine Geschichte, der als symbolisch erscheint – etwa ein Mythos, eine Legende wie die Geschichte vom Glockengießer und dessen entführter und geschändeter Tochter in dem Film Abendland/Nightfall (der ungarische Übersetzer wird seine Mühe haben mit der richtigen Übersetzung des Titels) oder das Auftauchen des Schwans, zu dem der arbeitslose und nachts herumstreichende Anton in den Laderaum des Schleppschiffs hinuntergeht, die Stirn vorsichtig an den kleinen Kopf des Vogels pressend, diesen von einem Kohlenhaufen hebt und, den schneeweißen Kopf mit Küssen bedeckend, den Schwan nach oben trägt und quasi als Befreier in den Fluss wirft, das heißt, ihm das Leben rettet, wo man leicht über die Symbolik von Weiß und Schwarz, Reinheit und Unflätigkeit reden könnte, oder beim Glockengießer, der wie in einem apokalyptischen Märchen den Helden anfleht, ein Glockenschwengel sein zu dürfen, mit dem Anton läuten könnte, was auch geschieht, wodurch auf Antons Stirn Blutstropfen fallen – trägt auch dies hier, wie überraschend es auch immer ist, keinerlei Symbolik in sich. Kelemen will keine metaphysische Dimension andeuten, sondern sagt vielmehr (fortlaufend und monoton, unter Ausschluss der Möglichkeit einer Lösung oder Erlösung, damit so die Geschichte immer auf der gleichen Ebene weitergeht): es ist so, weil es so geschah . In diesen Filmen geschieht wirklich immer alles, selbst wenn die Dialoge mitunter didaktisch wirken und nicht einen natürlichen seelischen Zustand imitieren, denn diese Didaktik wechselt sich stets mit knallhartem Realismus ab. Unvergesslich präzise sind in dem Streifen Frost die Töne der ersten Verprügelung und Vergewaltigung der Mutter, das Weinen, das Wimmern, das Schreien, das brutale besoffene Gelalle des Ehemannes, der Lärm der umfallenden Möbel und der Schläge: da wir durch die lange Filmsequenz am Anfang mit dem taumelnden Vater auf der kalten Straße im Dezember und dem an seiner Schulter tief schlafenden kleinen Jungen in der Wohnung angekommen waren, kennen wir diese, die dank der meisterhaften Beleuchtung wie ein Labyrinth und gleichzeitig wie eine Rattenfalle im Souterrain wirkt; wir können den ins Treppenhaus sickernden Tönen ebensowenig entfliehen wie der Junge und müssen mit ansehen, wie der einsame Junge im Kellereingang zündelt; ebenso ist es am Ende des Films, als zwischen den Eltern im Hotelzimmer erneut das brutale Spiel vom Anfang beginnt und der Junge das Hotelzimmer, die Wirklichkeit in Brand steckt. In den Filmen von Fred Kelemen ist der Realismus so gut wie nie der Realismus der Zärtlichkeit, sondern ausschließlich der Realismus der Brutalität. Am Anfang des Films sehen wir zwar, wie zärtlich der Vater seine Last, den schlafenden Jungen, trägt, doch wir müssen um den Bub bangen, denn es sieht so als, als könnte ihn der Vater jederzeit fallenlassen. Zu Hause wird der immer noch schlafende kleine Junge zärtlich an den Tisch gesetzt, die gefütterte Kapuze wird ihm vom Flachskopf gezogen. Doch kurze Zeit später, nachdem sich der Vater aus dem Kühlschrank eine Büchse Bier geholt und geöffnet hat, schüttelt er den auf der Tischplatte schlafenden Jungen und will Feuer von ihm haben; es stört ihn nicht, dass er die Zigarette auch an der Flamme der dort flackernden Kerze anzünden könnte. (Auf dem Tisch steht Weihnachtsschmuck.) Nein, der Junge soll aufspringen und ihn bedienen. Er springt auch auf wie ein abgerichteter kleiner Hund.

Kelemen erleichtert seinen Zuschauern die Sache auch damit nicht, dass er in jedem Film genau das Gleiche macht – unterschiedlich ist höchstens die Struktur der Oberfläche, obwohl er in seiner letzten Regiearbeit, dem 2005 gedrehten Krisana (das lettische Wort bedeutet Gefallen oder Abgestürzt – er drehte den Film in Lettland, in Riga, wo er laut seiner Biographie von Zeit zu Zeit Kinematographie lehrt), mit der Tradition der früheren Geschichten bricht und eine Pointe einfügt. Die Pointe trägt zugleich eine simpel definierbare Aussage. Dies ist schon deshalb interessant, weil Kelemen fast manisch großen Wert darauf legt, dass die Zuschauer seinen Bildern ja keine zusätzliche Bedeutung beimessen; diese Absicht lässt sich in seinen Kompositionen ganz klar verfolgen: sie sind immer zutiefst sachlich und haben etwas streng Neutrales an sich, etwa einen überaus neutralen Hintergrund; der Bildrand kippt nicht, allenfalls vibriert der Rand bei den oft mit der Handkamera aufgenommenen Bildern, doch auch dadurch wird nicht das menschliche Auge, sondern eher eine dokumentarische Kamera heraufbeschworen; die Nah- und Supernahaufnahmen sind oft aus Einzelbildern vergrößerte und dadurch unscharf gewordene oder unscharf gelassene Bildausschnitte, die auch nicht die Illusion einer subjektiven Nähe erwecken, einen Gemütszustand vergrößern und die Subjektivität des Zuschauers manipulieren wollen; sie verlangen also nicht für eine Sekunde eine Identifizierung mit dem vergrößerten Gesicht oder mit der Figur. Ein immer wiederkehrendes Element ist, dass der unscharf belassene Hintergrund allmählich breiter wird (die Finger eines Kindes auf einem beschlagenen Waggonfenster: sie wirken wie Wellenbewegung im Meer); etwa ein unscharf gelassener Strubbelkopf über die ganze Bildfläche geht oder ebenso die Silhouette eines Halbprofils, hinter und neben dem wir hinausblicken können wie in einer Kneipenszene in Frost (1998). (Dieser 3 Stunden und 20 Minuten lange Film war Kelemens erster Versuch der Synthese, und der 2 Stunden und 20 Minuten lange Streifen Abendland /1999/ der zweite, als wäre die absichtlich gehaltene Länge zugleich eine Zerreißprobe der Form.) Als der Vater mit ein wenig Hilfe seine Frau aufstöbert, besetzt er in der Kneipe den Tisch gegenüber dem Eingang des Hotels, beobachtet das Fenster im Obergeschoss, in dem seine Frau auftaucht, und wartet später, mit seiner Silhouette ebenfalls dem Eingang der Kneipe zugewandt, auf seine Frau, die gerade über die Straße geht; mit dieser Lösung wird nicht das Schauen der betreffenden Figur, sondern das Schauen beim Schauen dargestellt . Aber ich gehe noch weiter: die Figuren im Hintergrund der Bilder sind zumeist Betrunkene, manchmal Kinder, also keine Arbeiter, keine Manager, auch nicht Vertreter einer nicht näher definierbaren sozialen Gesellschaftsschicht oder Branche, die unter Umständen mit einem konkreten Ziel oder mit einer Absicht irgendwohin streben, vielmehr betreiben sie eine Art immerwährende Tätigkeit, sie spielen etwa am Ufer oder rennen auf der Straße, und die Betrunkenen taumeln aneinandergeklammert nach Hause. Wenn es hier eine Dynamik gibt, dann die Dynamik der Erstarrung in einem Zustand.

Zögern wir also nicht mehr, den Gedanken über die unerwartet auftauchende Pointe zu erörtern, ist doch etwas – so unsere These –, was für den bislang letzten Film von Kelemen gilt, für den ersten genauso gültig – selbst wenn der letzte Film vielleicht die aktuelle Station einer möglichen Entwicklung ist – wobei sich Kelemen keineswegs entwickeln will, es steht überhaupt nicht in seiner Absicht, was man als Entwicklung wahrnimmt, ist eine gewisse Ver­änderung infolge der Umstände, eine Art Reifung –, da also Krisana der uns zeitlich am nächsten liegende Referenzpunkt zu Kelemens Welt ist, ist es doch sehr überraschend, dass die Hauptfigur, Matiss Zelcs, ein Mitarbeiter des Archivs von Riga (gespielt von Egons Dombrovskis, einem - wie auch die anderen Darsteller in diesem Film - lettischen Schauspieler) der herumstreift und -wandert, zu Beginn des Films eine Brücke überquert, und mitten auf der Brücke, jenseits des Geländers, steht eine junge Frau, die er nur wortlos anblickt; und er geht weiter und erst später, als die Frau vermutlich ins Wasser gesprungen ist und nach Hilfe ruft (man hört nur ihre Stimme), kommt er darauf, dass er die Frau womöglich hätte retten können; er ruft die Polizei und wartet, auf der Brücke sitzend, auf die Polizisten – man weiß also nicht, ob der Mann von irgendwoher auf dem Heimweg ist oder nur ein bisschen Nachtluft schnappen wollte, ob er gerade kommt oder geht. Kelemen hat in Krisana einen diabolischen Dreh versteckt – noch dazu ziemlich ungeschickt, man könnte sagen, übereilt, wobei in diesem Fall auch die Ungeschicklichkeit einen zusätzlichen Wert hat, denn sie weist ganz klar auf den Gedanken hin, den man getrost als eine Pointe bezeichnen kann, die man in seinen früheren Filmen vergeblich gesucht hätte. Dieser Archivar, der aus dem mächtigen Karteikartensystem hinter wuchtigen Metalltüren verschiedene Dossiers hervorholt und wieder dorthin zurücklegt, bewegt sich heimisch in der Wüste der Behörde, er hat ein eigenes Büro, er scheint einen Überblick über die Ordnung der Welt und eine gesicherte Existenz zu haben, wobei nicht ganz klar ist, was aus ihm noch werden kann, seine Wohnung ist genauso wie die anderen Wohnungen in Kelemens Filmen: ein paar an die Wand genagelte Fotos, ein paar Möbel, nichts Persönliches – das heißt, dieser Zelcs mischt sich in eine Geschichte ein, er richtet jemanden ungewollt zugrunde, während sich die übliche Dreiecks-Liebesgeschichte ohne ihn sicher ohne Menschenopfer gelöst hätte. Auf seine Nachfrage wird ihm in einer Kneipe nahe der Brücke von dem Schankwirt eine Handtasche übergeben, dazu Entwürfe eines Abschiedsbriefes; in der Handtasche findet er einen leeren, aber mit einem Namen versehenen Umschlag sowie einen Schein für eine zu entwickelnde Filmrolle; als er die Filmrolle abholt, kommt eine klassische Voyeursituation zustande. Vielleicht hervorgerufen durch die Bemerkungen des Polizeibeamten, den er am Fluss traf und der meint, ein Selbstmörder erwecke sofort unser Interesse, auch wenn wir ihn bislang gar nicht beachtet haben. Wohlgemerkt, Zelcs beginnt nicht infolge eines Monologs auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens mit seinen Ermittlungen. Die beiden Sachen sind einander einfach beigeordnet, der Polizeibeamte tritt in dem Film überhaupt nicht mehr auf. Kelemen bemüht sich sogar, die Pointe zu entschärfen: der Verführer bringt sich im Off um, der Revolver ist zwar schon einen Moment zuvor zum Vorschein gekommen, doch der Selbstmord infolge der betrunkenen Rechenschaftsforderung durch Zelcs – man hört nur einen Knall, und Zelcs runzelt die Stirn – wird doch zur unerwarteten Wende einer Amateur-Detektivgeschichte, und man könnte sogar lachen, würden dies die um Atem ringenden Bilder Kelemens mit ihrer stickigen Atmosphäre erlauben. Damit ist der Film eigentlich zu Ende, es stellt sich lediglich noch heraus (was ich jetzt mache, nennt man in der Fachsprache Spoller ), dass die Selbstmörderin, deren Leiche im Fluss nicht gefunden wird, doch am Leben geblieben und zu ihrem Mann und ihrem Kind zurückgekehrt ist. Der Austausch der Orte oder Schicksale funktioniert als Pointe. Der durch den russischen Harmonikaspieler erschossene Kunde in Verhängnis (1994) und die Szene, wie Ljuba (Sanja Spengler) mit den schwabbelnden Schenkeln nackt rennt, funktionieren deshalb nicht als Pointe, da hier – auch wenn ein winzigkleiner Frauenrevolver ganz nebenbei, also spaßig und grotesk, man könnte sagen, à la Godard ins Spiel kommt und losgeht – anschließend noch eine Szene kommt, die Schändung Ljubas in der Bar, ein verzögerter und grimmiger Höhepunkt des ganzen Films, einer der unerreichbaren Höhepunkte des ganzen Oeuvres von Kelemen – wobei in seinen Filmen die nur als Sexobjekte fungierenden, zum perspektivischen Denken oder zu dauerhaften Gefühlen unfähigen Frauen generell gedemütigt und geschändet werden. Dass dies auch für Männer gilt, mildert nicht die Aussagekraft dieser Feststellung; auch wenn sie passiv sind und sich treiben lassen, der Geschichte oder dem Dasein untergeordnet sind, sind die Männer immer die Lenker der Dinge und daher aktiv und machohaft – wortkarge, harte oder aber geschlagene Männer mit verwitterten Gesichtern sitzen vor ihren Gläsern, oder sie vergewaltigen Frauen, oder sie kratzen sich, an einen Haufen Stahlspäne gelehnt, mit einem Taschenmesser die Haut vom Körper, oder sie schauen zu, wie es ihre Auserwählte auf dem Rücksitz eines Autos mit einem Kunden treibt usw. – als Ars poetica müsste das reichen. In der Barszene, die meines Erachtens in die Filmgeschichte eingeht, verschmilzt Kelemen mit elementarer Kraft miteinander unvereinbare Dimensionen: das Bindemittel ist nicht nur die Welt der Nachtlokale – die Heimat, der Ausgangs- und Endpunkt aller Filme von Kelemen –, hier verdichten sich nicht nur die von Alkohol abgestumpfte menschliche Empfindsamkeit und der Kreis der am Barpult hockenden intellektuellen Witzbolde der Filmbranche und der sie umschwirrenden dahergelaufenen Gangstertypen mit den schwermütig an den kleinen Tischen sitzenden einsamen Beamten zu einem unwiderstehlichen Wirbel, sondern es ist vor allem die gleichmütige Gelassenheit, die sich auch in der Bereitwilligkeit der Bardamen zeigt, mit der sie bei der Schändung einer anderen Frau assistieren, indem sie ihr mit dem Mitgefühl einer Krankenschwester die Whiskeyflasche vorsetzen (obwohl sie ja sehen, dass sie kaum noch reden kann) und sie teilweise als leichte erotische Beute betrachten, während die Männer in verschiedenen Abstufungen als brutale Machos agieren. Die Choreografie dieser Szene müsste an der Filmhochschule unterrichtet werden.

Ein vergleichbares Element – eine Pointe, ein Dreh, eine Wendung – ist es auch, wie in Frost das Hotelzimmer in Brand gesteckt wird, wobei diese Tat durch die sorgsame Darstellung von Michas Pyromanie an einer früheren Stelle bereits vorbereitet wurde, doch der Brand ist hier trotzdem eine Katharsis, oder er tritt als Auflösung einer unlösbaren – übrigens auch im Hinblick auf die Inszenierung unlösbaren – Situation an die Stelle der Katharsis, wenn wir nach dem brennenden Hotelzimmer das Gesicht des Jungen sehen, sein strubbliges blondes Haar im Wind und sein Halbprofil in einer schonungslos öden und kahlen Landschaft, auf einer Straße, als wollte der Regisseur diese Katharsis, an die er nicht glaubt, wieder rückgängig machen. Er ist nicht unschuldig, aber auch nicht schuldig. Er ist ein verräterischer und zugleich strafender Engel. Und schließlich ja doch ein einsamer kleiner Junge. Wir wissen nicht, was sich heute in ihm abgespielt hat, wir bekommen nicht den geringsten Hinweis darauf. In der gleichen kahlen Landschaft, über dieselben frostigen Äcker hat er sich mit seiner Mutter Tage und Nächte lang dahingeschleppt, um in der versunkenen Welt der Kindheit der Mutter anzukommen – um paradoxerweise in der östlichen Hälfte Deutschlands die Idylle zu finden; im Abteil des Zuges erzählt sie ihrem Sohn eine einzige Geschichte über ihre eigene Mutter und über die Entscheidung, die ohne sie gefällt wurde, während der Junge aus dem Fenster starrt; dann nimmt sie das ganze Geld aus dem Portemonnaie, versteckt es in einer Geheimtasche ihres Kleides und wirft das Portemonnaie aus dem Fenster. Als hätte sie ihre Vergangenheit weggeworfen. Der Junge schaut der hinausgeworfenen Geldbörse nach, hat aber auch dazu nichts zu sagen.

Die Pointe ist eigentlich eine Folge der Regiestrategie, deren Tiefe und Stärke nicht durch die psychologisch unmotivierte, improvisierte Situation entkräftet wird, die in unerwarteten und dennoch zwangsläufigen Begegnungen, in der Darstellung der einander kreuzenden Wege der Figuren zum Ausdruck kommt. In dem Film Abendland/Nightfall sind es die wiederholten Begegnungen und Trennungen der Büglerin und des Arbeitslosen (des Liebespaares in diesem Film, obwohl dieses Wort nicht ganz richtig ihr Verhältnis beschreibt, da sie einander an ganz unerwarteten Orten und in unterschiedlichen Situationen wiedersehen), die Begegnungen zwischen dem Mann mit dem Hund und dem Arbeitslosen, dem Barbesitzer und der Büglerin, der Sängerin und der Büglerin, dem Glockengießer und dem Arbeitslosen, ihre Trennung und erneute Begegnung, ihre Konflikte und Versöhnungen in der Nacht sind nicht biographischer Art; es sind sonderbare Algorithmen und Ellipsen; eins der schönsten Beispiele dafür ist die Kuhherde, die zwischen dem aus dem Hotel abgehauenen Jungen und seiner Mutter, die es in einer Toreinfahrt mit einem wildfremden Mann treibt, über die nächtliche Straße getrieben wird und zurückweicht.

Eine solche Begegnung (oder Pointe) ist am Ende von Verhängnis die erste Begegnung des Mannes mit der Ziehharmonika, Valerij, und Ljuba nach ihrem schrecklichen Erwachen auf dem Fabrikhof am Ende der Welt, oder dass die Mutter in Frost immer Leuten begegnet – zum Beispiel dem sie in dem nächtlichen Bahnhofsrestaurant belagernden Harry Baer (einem wichtigen Mitarbeiter und Schauspieler von Fassbinder; es wäre eine eigene Analyse wert, darauf hinzuweisen, was Kelemen Fassbinder zu verdanken hat: das Weltbild der Beiden ist die vollkommene Inversion voneinander und berührt sich dennoch an fast allen Punkten; bei Fassbinder ist die Leidenschaft allerdings ein noch existierender menschlicher Wesenszug, während es bei Kelemen nur das Fleisch gibt, die Leidenschaft ist die Leidenschaft des Filmschaffenden und bezieht sich nur auf den Stoff, auf die Herstellung des Films und auf das Erschaffen von Bildern), oder der neben ihnen anhaltenden perversen Lady, die sie in ihre Villa bringt, oder später dem Barbesitzer, der die Hand der Mutter vor den Augen des Cola schlürfenden Jungen in seiner Hose versenkt – die sich alle genauso benehmen wie sich ursprünglich ihr Mann ihr gegenüber verhalten hat; wo sie auch immer sind, selbst in der erfrorenen Mitte der Welt begegnen sie ihr.

Kelemen involviert in seine Filme ganz bewusst keine Standpunkte oder Erwartungen der Zuschauer, er hofiert ihnen nicht und richtet sich nicht nach bereits vorhandenen Formaten (abgesehen von Tarr, dessen Kameramann er auch ist und von dem man freilich nicht absehen kann). Die Figuren seiner Filme sind vom ersten Moment an von derselben unerbittlichen und unbestechlichen Verzweiflung durchdrungen wie am Ende und fünf Minuten nach dem Ende des Films und auch noch am nächsten Tag, wenn wir die Filme vor unseren seelischen Augen erneut vorführen. Selbst der Tod erscheint so – wie etwa in Frost , wo in einer unbewohnten und unbeheizten Bauruine, in der Mutter und Sohn für eine Nacht Zuflucht finden – lachhaft, wie die Mutter die kaum begehbare zerfallene Treppe hinaufruft, also so tut, also könnte da jemand wohnen – der Junge am nächsten Morgen einen Toten findet, vor allem das Bein eines Toten, wie es unter der Decke hervorlugt. Es gibt keine Geheimnisse; auf dieser Oberfläche, die der Tiefe gleichkommt, gibt es keine Geheimnisse: der Regisseur-Dreh­buchautor-Kameramann-Cutter beherrscht die Materie seiner Filme wie ein Maler das Gemälde, das er alleine malt; er ist auf jedem Einzelbild in vierfacher Eigenschaft präsent, was sich noch vervielfacht, wenn man zum Kameramann den Beleuchter oder zum Regisseur den Dramaturgen hinzudenkt. Fred Kelemen kann sich nicht den Luxus erlauben, irgendein wesentliches Element seiner Filme anderen zu überlassen; lieber geht er das Risiko ein, sich einmal zu irren. Und die Kraft und die Schönheit seiner Filme erschließen sich gerade bei den offensichtlichen Irrtümern, da sie ja unvermeidlich sind.

Mutter und Sohn sitzen im Schneegestöber auf dem Acker auf ihrem Koffer: es gibt keine vernünftige Erklärung dafür, was sie da suchen, warum sie da sitzen, doch sie müssen halt da sitzen, ja, in diesem Film müssen sie einfach dasitzen, und da sitzen sie nun in aller Ewigkeit.

andrás forgách, filmvilág 2009/1 , Ungarn

Übersetzung aus dem Ungarischen: Peter Máté