» Die Unbekannte von der Düna | Der Tagesspiegel
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Ein Mann wirft sich vor, einen Selbstmord nicht verhindert zu haben: Fred Kelemens Psycho-Meditation „Glut“

Von Peter W. Jansen

Die Kamera ist dem Mann auf die Fußgängerbrücke gefolgt. Sie sieht das Licht und den Schatten auf seinem schwarzen Mantel und in dem wirren Haar, sie sieht dem Licht zu. Wie dem Mann, der weiter vorn am Geländer eine Gestalt bemerkt. Er geht weiter und verharrt hinter einer blonden Frau, die auf dem schmalen Absatz über dem Fluss steht. Sie dreht sich um, blickt den Mann an und wendet den Kopf wieder nach vorn, in die Nacht und zum Fluss tief unten. Und der Mann geht weiter, bis der Aufprall eines Körpers im Wasser und ein Schrei zu hören sind.


So beginnt – die Plansequenz dauert drei Minuten – Fred Kelemens „Glut“. Eine Ouvertüre, die die ästhetische und moralische Strategie Kelemens vereinigt. „Glut“ kann nicht anders als ein Film in Schwarzweiß sein, und seine Farbe ist grau – wie Hemd oder Pullover, wie die Tapeten, der zerstörte Asphalt, der abblätternde Putz an den Häusern. Wir sind in Riga, wie wir mit Kelemen im Berlin von „Verhängnis“ waren oder im Portugal von „Abendland“. Wir sind im Europa der Kaschemmen, der immergleichen Schnäpse, die nur verschiedene Namen tragen.

Wodka ist die Nahrung von Matiss (Egons Dombrovskis), der innerlich zu verglühen scheint am Gefühl der Schuld, einen Selbstmord nicht verhindert zu haben. Der starke Raucher weiß immer, in welcher Tasche seines Mantels die Zigarettenschachtel ist und wo das Feuerzeug. In dieser banalen Handlung sind Moral und Ästhetik nahezu deckungsgleich. Denn der Kettenraucher reagiert nicht nur auf die Unruhe des Gewissens, er verschafft dem Film die grau-weißen Wolken, deren Struktur aus Zufall und Chaos ins Ungefähre führt. Matiss wird bald wissen, wer die Unbekannte von der Düna ist, ihren Liebhaber finden, mit dem sie unglücklich war, und diesen Alexej mit maßlosen Vorwürfen in den Selbstmord treiben. Wieder ist eine versiffte Kneipe – das Gemisch aus Tabak und Alkohol scheint über die Kinoleinwand zu schwappen wie beißender Ammoniakgestank aus alten Pissoirs – das Ambiente von Erniedrigung und Verzweiflung. Die Kamera umfährt die heftig trinkenden Personen in Kreisfahrten und kettet sie unrettbar aneinander. Kelemens Kamera ist nie ganz stabil; das Bild scheint selbst in starren Einstellungen leicht zu beben, so dass der Zuschauer den eigenen Atem zu spüren meint.

So sieht Matiss die blonde Frau wieder, in einer sonnendurchfluteten Café-Szene am Hafen: Während die Frau an einem Tisch Kaffee trinkt, sitzt Matiss an der Bar. Er dreht sich um nach der Frau, die ihn voll anschaut und zu erkennen scheint. Dann geht er zu ihr, setzt sich neben sie – und bittet sie um Vergebung. Vergebung wofür? Für einen Selbstmord, den er nicht verhindert oder der gar nicht stattgefunden hat? Oder um Vergebung für die Einmischung in ihr Leben, für den Tod des Geliebten?

Fred Kelemen hat „Glut“ in Riga gedreht, wo er einem Lehrauftrag an der Filmschule nachkam. Wo immer er sich aufhält, wo immer er filmt: Immer wieder findet er zu seiner ästhetisch-moralischen Position, der Vereinigung von Reduktion und Insistenz. Immer wieder findet er sich selbst – und die Bilder, die nur zu ihm gehören.
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Peter W. Jansen | 13. Oktober 2005