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Unwägbarkeiten | Peter W. Jansen, Filmbulletin 7.05
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GLUT von Fred Kelemen
Die Kamera ist dem Mann über eine eiserne Treppe auf die Fussgängerbrücke
gefolgt. Sie sieht das Licht und den Schatten auf seinem schwarzen Mantel
und in dem wirren Haar. Das Licht kommt von irgendwo da draussen und nicht
von der Kamera. Die sieht dem Licht nur zu. Wie sie dem Mann zusieht,
der seinen Schritt kurz anhält, wenn er weiter vorn links am Eisengeländer
der Brücke eine weisse Gestalt bemerkt. Dann gehen Mann und Kamera
weiter und verharren hinter einer blonden Frau im hellen Mantel, die,
mit dem Rücken zum Geländer, auf dem schmalen Absatz über
dem Fluss steht, mit beiden nach hinten ausgestreckten Händen den
Handlauf des Geländers umfassend. Die Frau dreht sich um, blickt
den Mann an und wendet den Kopf wieder nach vorn, in die Nacht und zum
Fluss tief unten. Und der Mann geht weiter, nicht schneller und nicht
langsamer als von Anfang an. Bis der Aufprall eines Körpers im Wasser
und ein Schrei zu hören sind.
So beginnt – die Einstellung, eine Plansequenz, dauert gut drei
Minuten – Fred Kelemens neuer Film GLUT (im lettischen Original
KRIŠANA: Fallend), und es ist eine Ouvertüre wie bei allen seinen
bisherigen Filmen: in der ersten Einstellung und den ersten Minuten finden
sich ästhetische und moralische Strategie vereinigt, sie lassen sich
nicht von einander trennen. So wenig wie vom Bild der Ton: das Quaken
von Myriaden von Fröschen, der Schrei einer Möwe, Hundegebell,
die Schritte des Mannes. Der war zu der Stelle am Brückengeländer
gelaufen, die jetzt leer ist. Dann geht er, nur wenig schneller als bisher,
zum Ende der Brücke und dort die der ersten Treppe gegenüber
liegende, wie spiegelverkehrt gebaute Treppe hinunter. So verschwindet
er, verdeckt vom Laubwerk der Bäume, auf dem Licht und Dunkelheit
changieren.
GLUT kann nicht anders als ein Film in Schwarzweiss sein, und seine Farbe
ist Grau, grau wie Hemd oder Pullover unter dem schwarzen Mantel, grau
wie die Tapeten, grau wie die in langweiligen Mäandern gerippten
Überzüge der Polstermöbel, wie der mit weissen Mustern
um Ansehnlichkeit buhlende Linoleum-Boden, wie der zerstörte Asphalt,
der abblätternde Verputz der Häuser aus Stein, die noch kurzlebiger
sind als die alten Blockhäuser, deren Holz längst vergraut ist.
Schmutz und Trümmer und Verfall allenthalben, leer stehende Häuser
und andere, bei denen der Abbruch abgebrochen worden ist. Es ist, in Riga,
die Landschaft wieder wie im Berlin von VERHÄNGNIS oder im Portugal
von ABENDLAND, es ist Europa. Mit den gleichen Destillen und Kaschemmen,
die sich vergeblich bemühen, laut und grell zu sein, Bars, in denen
immer die gleiche Atzung verabreicht wird, die in Lettland Wodka heisst.
Wodka ist auch die Nahrung von Matiss, des Mannes, der innerlich zu verglühen
scheint an der Schuld, die er sich zumisst, einen Selbstmord nicht verhindert
zu haben.
Nichts dergleichen wird wörtlich ausgesprochen, alles ist nur Licht
und Schatten und die Farbe Grau, sind der Dekor, die Bewegungen und Gänge,
Handreichungen und Handlungen. Matiss ist ein starker Raucher, und er
weiss immer, in welcher Tasche seines Mantels die Zigarettenschachtel
ist und wo das Feuerzeug; niemals sieht man ihn nach Zigaretten und Feuerzeug
suchen, so wenig wie nach seiner Lesebrille im grauen Futteral. Alle seine
Bewegungen sind Aktionen von lang her, wie in hartem Training eingeübt
das Öffnen der Schachtel und das von der hohlen Linken abgeschirmte
Zünden des Feuerzeugs. In dieser banalsten vieler denkbarer Handlungen
sind Moral und Ästhetik nahezu deckungsgleich. Denn der Kettenraucher
reagiert nicht nur auf die Unruhe des Gewissens, er verschafft dem Film
in Schwarzweiss die grau-weissen Wolken, deren ikonografische Struktur
aus Zufall und Chaos von Ungenauigkeit und Ungewissheit spricht, und von
einer Unwägbarkeit, in die der Film den Zuschauer mit sich nimmt.
Angestellter eines Archivs, scheint Mattis sich auszukennen in der Frage,
wie man nach etwas sucht. Er kommt in den Besitz der Handtasche der verschwundenen
Frau und einiger unvollendet zerknüllter Abschiedsbriefe an den Geliebten,
der ihr Leben zerstört habe. Mit dem Abholschein eines Fotoladens,
in der Tasche gefunden, verschafft er sich Fotos und sich und dem Zuschauer
Einblick in die Bilder-Geschichte eines Ehepaars mit Kind und der blonden
Ehefrau mit einem anderen Mann, zu dem ihn die Adresse auf einem leeren
Briefumschlag führt. Matiss wird diesen Alexej mit Vorwürfen
überschütten und ihn in den Selbstmord treiben. Wieder, wie
in VERHÄNGNIS und ABENDLAND, ist eine versiffte Kneipe – das
Gemisch aus Tabak- und Alkoholabusus scheint über die Kinoleinwand
zu schwappen wie beissender Amoniakgestank aus alten Pissoirs –
das Ambiente der Erniedringung und Verzweiflung. Für diese Szene,
die Protagonisten sitzen gegeneinander über, wechselt die Kamera
ihren Habitus radikal. Sie umfährt die heftig trinkenden Personen
in mehreren Kreisfahrten und kettet sie ähnlich unrettbar aneinander,
wie es die Kamera von Michael Ballhaus mit der doppelten 360-Grad-Fahrt
in Fassbinders MARTHA vollzog. Kelemens Kamera ist nie vollkommen stabil;
das Bild, offenbar fast durchweg aus der Hand gedreht, scheint selbst
in starren Einstellungen leicht zu beben, so dass man den Atem zu spüren
meint, den mit dem Film der Zuschauer atmet. Mit dem Gespräch Mattis-Alexej
findet ein anderes sein verzerrtes Spiegelbild: die Klage des Polizeikommissars,
der, von Mattis angerufen, zur Brücke gekommen war, über 700
Selbstmorde jährlich in einer Gesellschaft, in der eine tiefe Wunde
klaffe: der Mensch habe sich verirrt. Und ganz anders als bei Mattis und
Alexej in der Kaschemme blickt die Kamera bewegungslos in den Fond des
Autos, in das der Polizist Mattis geholt hat.
Matiss wird die blonde Frau wieder sehen, sie und ihren Mann und das Kind,
die man von den Familienfotos kennt. Die Szenerie in einem Café
am Hafen ist hell, nahezu sonnendurchflutet. Während die Frau an
einem Tisch Kaffee trinkt, sitzt Mattis, der ihr den Rücken zukehrt,
trinkend und rauchend auf einem Hocker an der Bar. Er dreht sich um nach
der Frau, die ihn voll anschaut und zu erkennen scheint. Dann geht er
zu ihr, setzt sich neben sie – und bittet sie um Vergebung. Vergebung
wofür? Für einen Selbstmord, den er nicht verhindert und der
nicht stattgefunden hat? Für die Einmischung in ihr Leben, die Indiskretion
seiner Nachforschung, für den Tod des Geliebten?
Wenn die Frau mit Mann und Kind, die von aussen an das Café herangetreten
sind, fortgegangen ist, geht Mattis hinunter zum Fluss, der hier an seiner
Mündung sehr breit ist – man sieht ein grosses Passagierschiff
auf der Reede –, und er legt sich rücklings auf die Steine
der Uferbefestigung, die Arme weit von sich gestreckt. Es ist der Augenblick,
in dem, zum erstenmal, eine Musik zu hören ist, die keine in der
Szene erzeugte source music ist: die ersten Takte der sogenannten Brockes-Passion
von Georg PhilippTelemann.
Fred Kelemen hat GLUT in Riga gedreht, wo er einem Lehrauftrag an der
Filmschule nachkam. Wo immer er sich aufhält, wo immer er filmt:
er findet immer sich selbst und die Bilder, die nur zu ihm gehören.
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