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Glut | Text: Josef Lederle | Filmdienst Nr. 21 | 13. Oktober 2005
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Nacht. Eine Brücke. Ein Mann. Eine
Frau. Fremde. Ihre Blicke treffen sich. Ihren selbstmörderischen
Sturz in die Tiefe verhindert er nicht. Er kann sie nicht vergessen. Sie
wird zu seiner Obsession“, fasst das Presseheft den Inhalt von Fred
Kelemens jüngster Odyssee durch die Finsternis zusammen. Falsch ist
das nicht und wahrscheinlich sogar angetan, Zuschauer vor die Leinwand
zu locken. Doch dort endet dann auch schon das Geländer aus Worten,
weil man in Kelemens düsteren Dramen alsbald verloren geht –
und gut beraten ist, sich nur auf seine eigene Wahrnehmung zu verlassen.
Denn wie alle näheren oder ferneren Ahnherren dieses schweigenden
Kinos liebt es auch der in Berlin lebende Filmemacher, ästhetisch
spröde Erfahrungsräume zu entwerfen, die jeder für sich
durchmessen muss. Hier drängt sich nichts auf oder hält in Atem,
hier wird das Auge nicht überwältigt, die Seele nicht manipuliert;
im Gegenteil: selbst die losen Erzählfäden drohen in den minutenlangen
Passagen ins Ungefähre zu entschwinden, die Figuren sind keine psychologisch
grundierten Charaktere, sondern höchstenfalls einsame Sonderlinge,
Gattungsexemplare, die durch eine freudlose, unbehauste Welt taumeln.
Dafür wird man dann aber mit großartigen Sequenzen wie jener
belohnt, wenn die Hauptfigur anderntags zu der Brücke zurückkehrt,
die nun im breiten Sonnenlicht da liegt. 20 Stunden zuvor hatten wenige
schummrige Bogenlampen fahle Kegel aus der Dunkelheit geschnitten, in
deren Widerschein die unerwartete Begegnung ein gespenstisches Ende nahm.
Jetzt sieht man Bäume, durch die der Wind streicht; man kann sogar
die Konstruktion erkennen, wenn der Mann zögernd die Treppen nach
oben steigt; wo ihn die (Steadycam)-Kamera schon erwartet – und
nicht mehr loslässt, minutenlang, in einer Mischung aus Unerbittlichkeit
und Solidarität. Die hagere Gestalt windet sich, weiß nicht,
wohin sie gehen oder schauen soll, sucht schließlich den Platz,
von dem die Frau gesprungen ist, wendet sich ab und der anderen Seite
zu, wo sich Kinder am Ufer tummeln. Über diesen fast sepiafarbenen
Schwarz-Weiß-Bildern liegt das beständige Rauschen der Blätter,
ein fortwährendes kühles Wispern und Raunen, in das sich schließlich
von fern die Rufe der Kinder mischen, die gegen Ende der Einstellung auch
in den Blick kommen; in einer charakteristischen Aufnahme, rechts am Hinterkopf
des Mannes vorbei, der ein Drittel der Leinwand füllt. Eine absolut
stimmige, in ihrer Atmosphäre bezwingende und obendrein noch ungeschnittene
Sequenz, deren referierbarer „Inhalt“ – das schlechte
Gewissen treibt an den Ort der unterlassenen Hilfeleistung zurück
– in markantem Gegensatz zur Länge und dem enormen Assoziationsfeld
steht, das durch die insistierende Bildsprache eröffnet wird.
Kelemens Verwandtschaft mit den Metaphysikern des Kinos erschöpft
sich jedoch nicht im Stilistischen; mit Bresson, Tarkowskij und Tarr verbindet
ihn neben der künstlerischen Sturheit vor allem die Nähe zu
philosophischen Themen. Während das eigentliche Geschehen, der Sprung
bzw. der Entschluss, nicht einzugreifen, sprachlos bleiben, will der ermittelnde
Kommissar das Grauen, das über dem anbrechenden Morgen liegt, durch
einen nicht endenden Wortschwall vertreiben. In seinem grotesken Monolog
klingt der intellektuelle Horizont (auch der Kelemens) an: die verzweifelte
Frage nach „dem Menschen“ als dem einstigen Abbild Gottes,
das aus der Gnade gefallen, am Rande des Abgrunds torkelt. So unzeitgemäß
eine solche Terminologie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so
sehr verleiht
sie der durchgängigen Tristesse dieses Films doch erst ihre markante
Schärfe, die selbst produktionsbedingte Mängel in erzählerische
Qualität verwandelt. Die verwaschene Schwarzpalette des Films, der
über weite Strecken nachts spielt und Dunkelheit in den verschiedensten
Bedeutungen dramaturgisch akzentuiert, ist zwar dem billigen DV-Format
geschuldet, gewinnt im Kontext des Exemplarischen aber fast programmatischen
Charakter: als schlierig-pulsierende Zone an der Grenze zum Nichts, das
unablässig an den Figuren und ihren sich auflösenden Welten
nagt.
Deshalb hält es der Mann im Licht auch nicht lange aus. Einmal steht
er an seinem Arbeitsplatz zwischen turmhohen Regalen in gleißender
Helligkeit, die alle Konturen verschwimmen lässt und sich wie warmer
Regen von oben ergießt; doch eine Stimme zwingt in die unwirsche
Wirklichkeit zurück, die sich weigert, ins Unterbewusste abgeschoben
zu werden. Es treibt ihn zurück zur Brücke und zur Bar, wo sich
die Verzweifelte zuletzt aufgehalten hatte. Wie ein Detektiv im Film noir
sucht er nach Spuren und Anhaltspunkten, als könnte das Wissen um
die Hintergründe die eigene Unruhe befrieden. Später sitzt er
zu Hause an einem Tisch und streift mit schweren Händen zerknitterte
Briefbögen glatt. Drei Abschiedsbriefe, drei Anläufe, Ade zu
sagen. Adressat ist der Liebhaber, die erste große Liebe, um derentwillen
die Frau ihren Ehemann und ihr Kind verlassen hat, als er nach Jahren
plötzlich wieder vor der Tür stand. Doch der Traum vom Paradies
währte nur kurz. Jeder der Briefe schlägt einen anderen Ton
an, tariert Glück, Schuld und Verantwortung jeweils anders, um mitten
im Versuch plötzlich mutlos wieder abzubrechen. Nuancen, die der
ungebetene Leser nicht registriert. Stattdessen tauchen Fotos auf, gestochen
scharfe Indizien, die zum Geliebten führen, zu Konfrontation und
neuem Unheil, neuer Schuld.
Mehr als die stotternde Bitte um Vergebung bleibt am Ende nicht übrig,
um der wachsenden Verzweiflung Herr zu werden. In der letzten Einstellung
steigt der Mann frühmorgens zum brackigen Wasser hinunter, das dunkel
vor sich hin treibt. Ein kaltes, mitleidsloses Bild bar jeden Trostes,
das sich von der klammen Eröffnungssequenz insofern unterscheidet,
als die abgründige Verstrickung nun offen zu Tage liegt. Prägnanter
lässt sich die Bedeutung des lettischen Originaltitels „Krisana“
kaum in Szene setzten, der von der gefallenen Welt als metaphysischem
Faktum spricht, während der deutsche Titel „Glut“ eher
auf eine moralische Dimension abhebt. In dieser Differenz klingt eine
grundsätzliche Spannung an, die auch auf der Inszenierung lastet.
Denn Kelemen verschiebt den erzählerischen Fokus mit zunehmender
Dauer in Richtung Handlungslogik, bis der Film am Ende eine überraschende
Wende nimmt, die nicht nur dem einsamen Helden, sondern auch dem Zuschauer
einen radikalen Perspektivenwechsel abverlangt. Ein solcher Kniff erzwingt
zwar Aufmerksamkeit, weil das Geschehen plötzlich aus einer anderen
Perspektive beleutet wird, untergräbt aber auch die nicht-narrative
Ästhetik von Kelemens Kino. Vom Ende her könnte der Film mühelos
als Geschichte erzählt werden, wobei der Plot dann auf die Idee eines
Kurzfilms zusammenschnurren würde, in dem alles auf die Schlusspointe
hin inszeniert ist. Das aber hat mit „Glut“ nichts zu tun
und würde dem Film zu Recht Fragen nach seiner Stringenz und erzählerischen
Ökonomie auflasten. Gegen solche Kurzschlüssigkeit muss Kelemen
in Schutz genommen werden, auch wenn solche Anfragen nachvollziehbar sind.
Die Größe seiner Filme liegt nicht in referierbaren Inhalten,
sondern in der abgründigen Erfahrung von Kino als einer Sphäre
ästhetisch-existentieller Unmittelbarkeit, die sich erst in einem
zweiten Schritt in die Welt der Diskurse überführen lässt.
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