» Die Blonde von der Brücke | Frankfurter Rundschau
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Der Mann ist, es ist Nacht, auf die Fußgängerbrücke gegangen. Die Kamera ist ihm gefolgt. Sie sieht Licht und Schatten auf seinem schwarzen Mantel und in dem wirren Haar, sie sieht dem Licht zu. Wie dem Mann, der weiter vorn am Geländer der Brücke eine Gestalt bemerkt. Beide, Mann und Kamera, bleiben hinter einer blonden Frau auf dem schmalen Absatz über dem Fluss stehen. Die Frau dreht sich um, blickt den Mann an und wendet den Kopf wieder nach vorn, zum Fluss tief unten. Und der Mann geht weiter, bis der Aufprall eines Körpers im Wasser und ein Schrei zu hören sind.

So beginnt - die Plansequenz dauert gut drei Minuten - Fred Kelemens neuer Film Glut, und es ist eine Ouvertüre wie bei allen seinen Filmen: In den ersten Minuten finden sich Form und Moral vereinigt, sie lassen sich nicht voneinander trennen. So wenig wie vom Bild der Ton. Glut kann nicht anders als ein Film in Schwarzweiß sein. Trümmer und Verfall allenthalben, leer stehende Häuser und andere, bei denen sogar der Abbruch abgebrochen worden ist. Es ist, in Riga, die Landschaft wieder wie im Berlin von Verhängnis oder im Portugal von Abendland, es ist Europa. Mit den gleichen Kaschemmen, in denen immer die gleiche Atzung verabreicht wird, die in Lettland Wodka heißt.

Wodka ist auch die Nahrung von Matiss, des Mannes, der innerlich zu verglühen scheint an der Schuld, einen Selbstmord nicht verhindert zu haben. Der starke Raucher weiß immer, in welcher Tasche seines Mantels die Zigarettenschachtel ist und wo das Feuerzeug. In dieser banalsten vieler denkbarer Handlungen sind Moral und Ästhetik nahezu deckungsgleich. Denn der Kettenraucher reagiert nicht nur auf die Unruhe des Gewissens, er verschafft dem Film die grau-weißen Wolken, deren Struktur aus Zufall und Chaos von Ungewissheit spricht.

Mattis wird bald wissen, wer die Unbekannte von der Düna ist, ihren Liebhaber finden, mit dem sie unglücklich war, und diesen Alexej mit maßlosen Vorwürfen in den Selbstmord treiben. Wieder, wie in Verhängnis und Abendland, ist eine versiffte Kneipe - das Gemisch aus Tabak und Alkohol scheint über die Kinoleinwand zu schwappen wie beißender Ammoniakgestank aus alten Pissoirs - das Ambiente von Erniedrigung und Verzweiflung. Die Kamera umfährt die heftig trinkenden Personen in mehreren Kreisfahrten und kettet sie unrettbar aneinander. Kelemens Kamera ist nie vollkommen stabil; das Bild scheint selbst in starren Einstellungen leicht zu beben, so dass man den Atem zu spüren meint, den der Zuschauer mit dem Film atmet.

Matiss sieht die blonde Frau wieder, sie und ihren Mann und das Kind, die man von den Familienfotos kennt, die Mattis aufgetrieben hat. Die Szene in einem Café am Hafen ist sonnendurchflutet. Während die Frau an einem Tisch Kaffee trinkt, sitzt Mattis auf einem Hocker an der Bar. Er dreht sich um nach der Frau, die ihn voll anschaut und zu erkennen scheint. Dann geht er zu ihr, setzt sich neben sie - und bittet sie um Vergebung. Vergebung wofür? Für einen Selbstmord, den er nicht verhindert und der nicht stattgefunden hat? Für die Einmischung in ihr Leben, die Indiskretion seiner Nachforschung?

Wenn die Frau mit Mann und Kind, die von außen an das Café herangetreten sind, fortgegangen ist, legt Mattis sich rücklings auf die Steine der Uferbefestigung, die Arme weit von sich gestreckt. Es ist der Augenblick, in dem zum ersten Mal eine Musik zu hören ist, die keine in der Szene erzeugte source music ist: die Anfangstakte der so genannten Brockes-Passion von Georg PhilippTelemann.

Kelemen hat Glut in Riga gedreht, wo er einem Lehrauftrag an der Filmschule nachkam. Wo immer er sich aufhält, wo immer er filmt: Er findet immer wieder zu seiner ästhetisch-moralischen Position. Er findet sich selbst und die Bilder, die nur zu ihm gehören.

Glut, Regie: Fred Kelemen, mit Egons Dombrovskis, Nikolaj Korobov, Vigo Roga u.a., Deutschland / Lettland 2005, 90 Minuten.
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Peter W. Jansen | 13. Oktober 2005