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Einsamkeit | Text: Margit Voss | Neues Deutschland | 13. Oktober 2005
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Glut - von Fred Kelemen
Fünf Jahre lang nahm Kelemen Anlauf, um seine eigene Filmsprache
in Kurzfilmen auszuprobieren, drehte mit »Verhängnis«
(1994) seinen ersten Spielfilm, heimste nationale und internationale Preise
ein und spaltete auf Anhieb sein Publikum in rückhaltlose Bewunderer
und erbitterte Gegner. Die einen priesen die Leidensfähigkeit seiner
Charaktere, die Wahrhaftigkeit der Situationen, die Grobkörnigkeit
des Bildes, die Besinnung auf einen Erzählrhythmus, der keinerlei
Zugeständnisse an heutige Sehgewohnheiten macht. Die anderen fanden
nur schwer Zugang zu Filmen, in denen die Erniedrigten und Beleidigten
nackt, in ihren psychischen und physischen Grenzen auftauchten, ausgeliefert
einem grausamen Schicksal von Lieblosigkeit und Gewalt, in Einstellungen,
deren Film-Zeit Lebens-Zeit schien. Die Qualen der Figuren auf der Leinwand
verwandelten sich in Qualen für den Betrachter, vergällt durch
jenes Quäntchen Abneigung, das dem Gewinn im Wege steht.
So blieb die Schar von Kelemen-Anhängern auf jene Cineasten begrenzt,
die ständige Besucher von Filmkunstkinos oder Festivals sind. Kelemens
Filme tragen Titel, die die ihnen innewohnende Sprödigkeit Gleichsam
herausschreien: »Verhängnis« (1994), »Frost«
(1998) oder »Abendland« (1999) signalisieren Fremdheit und
Verdammnis. Dies aber könnte sich nun mit »Glut« ändern.
Vielleicht, weil Kelemen ein äußerer Umstand zu Hilfe kam:
eine begrenzte Aufenthaltsdauer im lettischen Riga, ein schmaleres Budget
als sonst und eine Idee, die ihre Ursprünglichkeit noch nicht verloren
hatte. Dies alles zwang ihn zu unerwarteter Verkürzung seines Sujets
und führte zu einem »normal« eineinhalbstündigen
Spielfilm.
Er erfand den Archivangestellten Matiss, der eines Abends die Brücke
eines Flüsschens überquert und für Sekunden in das Antlitz
einer Frau blickt, die vor dem Geländer steht. Wenig später
– er hat sich lediglich zehn Meter entfernt – hört Matiss
das Geräusch einer ins Wasser klatschenden Masse, eilt zurück,
blickt ins Dunkel, wiederholt diesen Vorgang, setzt seinen Weg fort. Damit
hat Kelemen seinen Haken ausgeworfen. Was ist passiert? Ist die Frau gesprungen?
Ist sie tot? Sollte man die Polizei rufen? Matiss wird zum Alter Ego des
Betrachters. Seine Betroffenheit, seine Neugier, seine Zweifel, seine
Spurensuche sind von nun an die seinen.
Matiss (der lettische Schauspieler Egons Dombrovskis) ist Mitte vierzig,
dunkel, ruhig, in sich gekehrt. Angestrengt sucht er das Geschehen Stück
für Stück zusammenzusetzen. Man sollte wissen, dass in Kelemens
Filmen wenig gesprochen wird. So darf keiner erwarten, dass der karge
Dialog das Geheimnis lüften wird. Vielmehr muss man sich auf alles
einlassen, was die Sinne schärft, den puren Sound beispielsweise.
In »Glut« sind die ersten Einstellungen, der abendliche Gang
über die Fußgängerbrücke von Froschquaken, Vogelpiepsen
und Hundegebell begleitet. Solche Film-Situationen vertragen keine musikalische
Begleitung, zumal der Regisseur die Kamera schwarz-weiß erzählen
lässt. Licht und Schatten kommen aus natürlichen Quellen. Die
Gasse atmet Einsamkeit. Gut so. Sie ist auch den Charakteren eigen.
All dies setzt die Imagination des Zuschauers in Gang. Seine Fantasie
wird gefordert, nicht beschnitten. Matiss kommt in den Besitz der Handtasche,
die die fremde Frau in einer kleinen Bar vergessen hat. Sie enthält
den üblichen Krimskrams, dazu drei Briefe an den gleichen Mann. Abschiedsbriefentwürfe.
Dies sind Lebenszeichen, die die Anonymität der ersten Begegnung
zwischen zwei Menschen aufhebt. Wir werden zu Voyeuren, können uns
nicht zurückziehen. Und als eine dritte Person zufällig hinzukommt,
jene, an die die Briefe gerichtet sind, kreuzen sich im Betrachter zwei
widerstreitende Gefühle. Das eine betrifft Vorstellungskraft und
Realität, das andere Scham, sich eingemischt und schuldig geworden
zu sein durch Unterlassung, Lieblosigkeit, Trägheit?
Kelemen formuliert keine Anklage. Die Obsession seines Helden, eines durchschnittlichen
Mannes, der an einem Sommerabend absichtslos einen Abendspaziergang antrat,
Zeuge menschlicher Tragödien wurde und sie zu seinen eigenen machte,
wird in ihrer Alltäglichkeit schmerzhaft bewusst. Ohne etwas von
seinem Anspruch aufzugeben, geschweige seiner eigenwilligen Stilistik,
ist Kelemen mit »Glut« etwas Besonderes gelungen und überrascht
nun jeden, der bisher geneigt war, das Talent in Frage zu stellen.
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