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KRISANA | Text: Rüdiger Tomczak, shomingeki Nr. 16, Frühling/Sommer
2005
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von Fred Kelemen
Deutschland / Lettland: 2005
(Internationales Forum Carte Blanche Erika Richter)
Ein Film in Schwarz und Weiß und im Standartformat: Ein Mann geht
nachts über eine Brücke in Riga und sieht eine Frau, die von
der Brücke springen will. Er zögert, geht dann aber weiter.
Man hört etwas wie das Aufschlagen von etwas Schwerem auf das Wasser
und wenig später sucht die Polizei den Fluß ab, ohne auch nur
die Spur einer Toten zu finden. Der Mann kommt in den Besitz ihrer Handtasche,
die Fragmente ihrer Identität enthält: Fotos oder ein Umschlag
mit der Adresse eines Mannes.
Zunächst rekonstruiert der Mann (der in einem Archiv arbeitet) die
Geschichte der Frau anhand der Spuren, die er gefunden hat. Er gerät
immer mehr in den Sog einer fremden Geschichte, die er teilweise rekonstruiert
und zum Teil mit seiner Vorstellungskraft komplettiert. Und in der Art,
wie er sich mit dieser fremden Geschichte beschäftigt (so wie wir
auch Anteil an den fremden Geschichten nehmen, die das Kino erzählt),
wirft sie ihn auf sich selbst zurück und auf seine Einsamkeit. Dieser
Mann bewegt sich durch eine seltsame Stadtlandschaft, in der nur wenige
Menschen zu sehen sind. Über seine Identität erfahren wir nicht
mehr als von denen der anderen Fremden, die mit uns im Kino sitzen. Seine
Besessenheit, Bilder und Zeichen eines fremden Lebens zu einer Geschichte
zusammenzusetzen, gibt eine Ahnung von seiner Isolation, die der des anonymen
Kinozuschauers, beim Eintauchen in eine fremde Geschichte, ähnlich
ist. Seine Vorstellungskraft, aus diesen Spuren eine Geschichte zu finden,
erinnert auch daran, daß Kino ohne Imagination gar nicht existieren
kann. Darum ist Kino immer etwas, was halb wahrgenommen und halb geträumt
wird, ein Zustand, in dem die eigentliche Magie des Kinos liegt, eine
Magie, die intellektuell niemals entschlüsselt werden kann.
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