FALLEN

Regie: Fred Kelemen
Lettisch/Russisch mit englischen Untertiteln
Kino Kombat Filmproduktion/Kinofassung
Anthology Film Archives
32 Second Ave. at Second St.
22. Dezember


Egon Dombrowski in Fred Kelemens “Krisana” (“Fallen”) – ein sehenswerter, unaufdringlicher und geheimnisvoller Film – läuft zurzeit bei Anthology Film Archives.


Blues in der Nacht

Schatten am Rande des Europas des 21. Jahrhunderts in Fred Kelemens Film „Fallen“

Von Ioannis Mookas

Der neue Film Fred Kelemens ,„Fallen“, der nun bereits die zweite Woche im Anthology läuft, stürzt den Betrachter in ein Bad ätzender Anomie ( d.h. der Zuschauer wird konfrontiert mit dem Zustand mangelhafter gesellschaftlicher Integration innerhalb eines sozialen Gebildes, verbunden mit Einsamkeit, Hilflosigkeit) und wird sicherlich den widerwärtig süßen Feiertagskitsch hinwegspülen. Wegen seiner unglaublichen Trostlosigkeit und weil er auf geradezu trotzige Art und Weise ein Film der alten Schule ist, sollte man diesen bemerkenswerten, unaufdringlichen und geheimnisvollen Film nicht übersehen.

„Fallen“ ist der vierte Spielfilm des visionären deutschen Filmregisseurs Fred Kelemen, der weithin anerkannt wird für seine früheren Filme „Fate“ (1994), „Frost“ (1997) und „Nightfall“ (1999), die, obwohl von der kürzlich verstorbenen Susan Sontag hoch geschätzt, in den USA nur wenig bekannt sind. Kelemen, selbst erklärter Akoluth / Gefolgsmann Bela Tarrs, des ungarischen Meisters der Trostlosigkeit und Düsternis, gab im vergangenen März eine Solidaritätserklärung ab, als der sich zur Unzeit ereignende Tod des Produzenten Humbert Balsan die Fertigstellung von Tarrs Film „The Man From London“ plötzlich in Frage stellte.

Kelemen ist jedoch kein Epigone. Obwohl deutlich erkennbar inspiriert von Tarrs kompliziert choreographierten langen Einstellungen und seiner niedergedrückten Stimmung, sind Kelemens Werke von eigener konzentrierter Kraft. Da Kelemen sowohl als Lehrender als auch als Künstler über Erfahrungen verfügt, nahm er einen Lehrauftrag an der lettischen Kulturakademie in Riga an, und es war dort, dass er die Eingebung zu dem o.g. Film hatte. Für dieses bescheiden zugeschnittene Projekt schrieb er das Drehbuch, führte Regie, stand an der Kamera und arbeitete zusammen mit einem Ensemble lettischer Theaterschauspieler, die alle großartig sind.

An einem in silbriges Licht getauchten Abend geht der einsame Matiss (Egons Dombrowski), Kelemens Version des Mannes ohne Eigenschaften, über eine Rigaer Brücke, umhüllt von der musique concréte säuselnder Bäume und von fern herüber dringender Industriegeräusche. Auf halbem Wege verlangsamt er seine Schritte und hält schließlich inne bei der geheimnisvollen Gestalt einer jungen blonden Frau (Aija Dzerve), die auf der falschen Seite des Geländers hockt. Sie wendet ihm ihr Gesicht zu, ihr Gesichtsausdruck ist undurchdringlich, ausdruckslos. Durchdringendes Möwengeschrei ertönt. Die Frau dreht sich wieder um und schaut in die Nacht.

Zögernd, schweigsam geht er weiter, aber als er das andere Ende der Brücke erreicht, hört er ein lautes Platschen und einen Hilferuf. Matiss stürzt an die Stelle zurück und starrt in die dämmerige Leere: von der Frau keine Spur mehr. Beunruhigt geht er zurück ans andere Ende der Brücke und, eingerahmt vom Käfig ihrer eisernen Baluster, strebt er auf eine nahe gelegene Telefonzelle zu – diese ganze Einleitung ist inszeniert als eine einzige ununterbrochene Einstellung. Dann tauchen die Bullen auf, and der Film nimmt eine höchst absurde Wendung, als Matiss von einem verbitterter Detektiv (Vigo Roga) auf dem Rücksitz seines Autos beschimpft wird.

Dann tritt Matiss in seiner alltäglichen Gestalt auf, als „Funktionär“ bei seiner Arbeit in den Magazinen des lettischen Nationalarchivs. Die anonyme Innenausstattung des Gebäudes, die zahllosen Akten, Matiss’ triste Kleidung und die Gleichgültigkeit seiner Mitarbeiter, all das verstärkt den Eindruck einer monumentalen Bürokratie und der totalen Verwaltung des Alltagslebens. Seine Begegnung mit dem von ihm vermuteten Selbstmord unterbricht seinen ohne besondere Höhepunkte mechanisch ablaufenden Alltag und erweckt eine schuldbefleckte Neugier, die sich schnell zur Besessenheit steigert.

Als er am nächsten Tag zu der Brücke zurückkehrt, betrachtet er den friedvoll dahin ziehenden Fluss, während im Hintergrund ein Grüppchen Badender im flachen Wasser herum spritzt. Indem er sich bei dem umsichtigen Barkeeper (Gundars Silakatin) einer nahe gelegenen Kneipe als Freund der Frau ausgibt, gelangt er an ihre Handtasche und damit an einige von ihr verworfenen Briefe, adressiert an einen gewissen Alexei.

Glücklicherweise enthält die Handtasche auch den Abholschein für eine Serie von Standfotos, und als Matiss diese abholt, geht „Fallen“ bewusst über in eine Hommage an Antonioni’s „Blow-Up“ (1966). Während Matiss die Diapositive auf die Wand projiziert, beginnt er darin die Geschichte einer Liebesaffäre zu sehen, und ihn erfasst große Besorgnis angesichts der Schnappschüsse der Frau erst mit einem, dann mit zwei männlichen Begleitern. Teil Kelemens Ironie ist, dass diese Bilder in ihrem Schweigen expressiver sind als die äußerst sparsam agierenden Schauspieler.

Matiss macht den geheimnisvollen Adressaten in einem Labyrinth von Hinterhofstraßen ausfindig, angeblich um die auf der Straße gefundene Börse zurückzugeben. Anfänglich ist Alexei (Nikolai Korobow) misstrauisch und kurz angebunden, aber die Verzweiflung ob seiner vermissten Geliebten überwältigt ihn, und er offenbart ihre Affäre Matiss, der an diesem Punkt das Schattenland von nahezu geistiger Verwirrung betritt. Der Film strebt einem unerwarteten Höhepunkt zu und bleibt Antonioni’s Bestehen auf unsere Empfänglichkeit für die trügerische Dimension von Bildern treu.

„Fallen“ bezieht einen Großteil seiner Wirkung und Schärfe daraus, dass der Film am Rande des Europas des 21. Jahrhunderts spielt. Die verfallenden Fassaden und die jämmerliche Atmosphäre des Ostseehafens sind ein starker Kontrast zu den vertrauten, glänzenden europäischen Städten, wie man sie so oft findet. Hinzu kommt, dass Kelemens holzschnittartige monochrome Kinematografie und das altmodische Akademische Normalformat an die hervorragende europäische Filmkunst der Nachkriegszeit erinnern. Mit jedem Film fährt Kelemen fort, sich als bewundernswerter Nachfolger dieses Erbes zu erweisen.

Gay City News, New York
Band 4, Nummer 50 / 15.-21. Dezember 2005

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