Briefe
einer Unbekannten
Konzentriert auf den gelebten Augenblick – Fred
Kelemens schwarzer Film „Glut“
Es könnte der Beginn einer großen Liebesgeschichte sein: dieser
Blick, den die blonde Frau dem Mann fragend und herausfordernd zuwirft,
nachts, auf einer Brücke, die von spärlichen Laternenlichtkegeln
bestrahlt wird. . . Aber dann kommt alles ganz anders. Der Mann wendet
sich ab, läßt die Frau zurück, die jenseits des Brückengeländers
steht, bereit zum selbstmörderischen Sprung in die Tiefe. Immer weiter
entfernt sich der Mann, bis er einen Hilferuf hört und innehält:
Offenbar ist die Frau gesprungen. Er ruft die Polizei, ein Kommissar betritt
die Szene und plappert drauflos, berichtet von Selbstmordstatistiken,
klagt über das Elend seines Jobs und über die gottverlassene
Ödnis der heutigen Welt überhaupt.
Der Mann heißt Matiss Zelcs, arbeitet als Archivar in Riga, und
wird fortan von Schuldgefühlen, einen Selbstmord nicht verhindert
zu haben, umgetrieben. Er macht sich wie ein Detektiv auf die Suche, entdeckt
Abschiedsbriefe der Frau, Fotos aus ihrem Leben, findet den Adressaten
dieser Briefe, erfährt Fragmente der tragischen Liebesgeschichte,
die sich da zwischen ihnen abgespielt haben muss. Doch nicht von dieser
melodramatischen Affäre erzählt Fred Kelemen – er portraitiert
die verzweifelte Einsamkeit seines Helden.
Eine schwebende Steadycam-Kamera begleitet den von seinem Vorhaben getriebenen
Matiss (Egons Dombrovskis) bei seinen labyrinthischen Gängen und
Suchbewegungen, bannt sie in grobkörnige Schwarzweißbilder,
die allesamt eine Atmosphäre der Verlassenheit, Verlorenheit und
des Scheiterns beschwören. Lang ausgesponnen sind die einzelnen Szenengemälde,
oft minutenlang, wobei der erzählerische Gehalt sich immer nur andeuten
mag, wie eine Gestalt im Nebel, um sich dann wieder in der Leere der Schauplätze
verflüchtigen zu können.
„Glut“ ist der vierte Spielfilm des in Berlin lebenden Fred
Kelemen. Er hat an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb)
studiert, nach früheren Studien in Malerei, Musik, Philosophie, Religions-
und Theaterwissenschaft. Er hat Theater gemacht und als Kameramann für
den ungarischen Filmemacher Béla Tarr gearbeitet.
Sein Kino ist von den anderen Künsten stark geprägt, zeichnet
sich aus durch beharrliche Konzentration, durch die Konsequenz, mit der
es eigene Visionen und Projektionen verfolgt – und ihre Entstehung
dabei immer mitreflektiert. Er macht ein Kino, für dessen Romantik
und dunkle, todesnahe Stimmung vor allem Nichteuropäer empfänglich
sind – Susan Sontag zum Beispiel. Zu Kelemens mit vielen Auszeichnungen
(darunter der Deutsche Filmpreis in Silber) dekoriertem Debüt „Verhängnis“
(1994) sagte sie, dass es das außergewöhnliche, an Alexander
Sokurow erinnernde Werk eines Visionärs des modernen Kinos sei. Ein
britischer Kritiker sprach von „teutonischem Nihilismus mit einer
von Tarkowskij und Angelopoulos geborgten Ästhetik“.
Tatsächlich hat Kelemens Ästhetik – „Glut“
ist mit Digitalkamera und extrem knappem Budget gedreht, dabei hat Kelemen
die Kamera und den Schnitt selbst besorgt – etwas von der meditativen
Trance, die man in den Filmen der beiden russischen Filmemacher findet,
aber sie bleibt – bei allen metaphysischen Prätentionen der
Erzählung in Richtung Schuld, Erlösung und Gottverlassenheit
– existenzialistisch geerdet. Konzentriert auf den gelebten Augenblick.
Da hat auch „Glut“ seine stärksten Momente in der albtraumartigen
Verdichtung der Bilder.
An Überzeugungskraft verliert der Film immer dann, wenn er sich narzisstisch
klagend in der Einsamkeitsversponnenheit seines Helden verliert. Matiss
sucht, allzeit wodkatrinkend und kettenrauchend, nach Spuren und Zeichen
eines Lebens, das anderswo gelebt wird. Er fürchtet die Begegnung,
oder ist zu müde dafür. Wenn er es dann doch einmal wagt, sich
einzumischen und den Geliebten der blonden Frau zur Rede zu stellen, provoziert
er dessen Selbstmord. Da wird es dann grotesk.
RAINER GANSERA
Süddeutsche Zeitung, 9. Dezember 2005
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