Das Zerfließen der Zeit: Fred Kelemens Film »Glut«

Matiss Zelcs ist Archivar in Riga. Er führt eine Schreibtischexistenz ohne eigenen Lebensinhalt. Als er Zeuge wird, wie eine junge Frau von einer Brücke springt, beginnt er, dieses andere Leben zu erforschen. Er verschafft sich die Handtasche, liest die Briefe, die nicht für ihn bestimmt sind, starrt auf die Fotografien aus dem privaten Leben der Frau und trifft schließlich sogar ihren Geliebten. Wie es scheint, hat Alina eine bürgerliche Ehe geführt, mit einem rechtschaffenen Mann und einem kleinen Sohn. Es gab da aber auch noch diese andere Geschichte, eine dramatische Alternative, eine Ausweglosigkeit, von der Matiss, in dessen ereignislosen Tagen es auf nichts ankommt, hoffnungslos fasziniert ist.
»Glut« heißt der Film des Berliner Regisseurs Fred Kelemen. Kalte Bilder werden durch männliche Projektion erhitzt. Matiss Zelcs lebt ganz in einer Welt der Vorstellung. Er hat keinen klaren Blick auf die Welt, deswegen kann sich auch Fred Kelemen viele Freiheiten des Noir und der Dekadenz nehmen. Die Recherche geht nicht ohne große Mengen Alkohol und viele Zigaretten ab. »Glut« ist die Geschichte einer Obsession, versetzt mit den Insignien des wilden Osteuropa. In den Straßen von Riga heulen die Hunde, den Männern hängen die Haare ungepflegt ins Gesicht. Die Welt ist schwarzweiß, die Nacht ist stärker als der Tag.
Schon die Titel der bisherigen Filme von Fred Kelemen deuteten in eine bestimmte Richtung:»Verhängnis«, »Frost«, »Abendland« sind sämtlich der Sonne abgewandt. Das Verhältnis der Geschlechter ist von Gewalt und Ausbeutung bestimmt. Kelemen erzählte von Prostitution und Vergewaltigung, doch seine Bilder waren immer auf eine prekäre Weise schön.
In »Glut« kehrt Matiss Zelcs später noch einmal an die Brücke zurück, an der Alina ins Wasser ging. Sein Blick ruht auf dem Geschehen, als wäre er selbst schon am Verschwinden und würde nur noch aus der Ferne ein paar Schemen sehen von dem, was die Menschen so treiben. Diese Traumverlorenheit verstärkt Kelemen noch durch die Tonspur, die entweder von trauriger Musik oder verwehten Stimmen geprägt ist. Dazwischen der rauhe Baß der Männer.
Kelemen gehört keiner Schule an, aber »Glut« läßt doch stilistische Ähnlichkeiten mit dem Werk des Ungarn Béla Tarr oder des Russen Alexander Sokurow erkennen. Die Verlangsamung bei Tarr und das Zerfließen von Raum und Zeit bei Sokurow sind auch bei Kelemen wahrnehmbar. Ob dies nun einfach epigonaler Stilwille ist oder eine genuin osteuropäische Form von phantastischem Realismus, muß offenbleiben. Daß dieser Stil während des Sozialismus eine andere ( kritisch-allegorische) Funktion hatte als nach dem Ende des Totalitarismus, spielt bei Kelemen, der 1989 mit seinem Filmstudium begann, keine Rolle. »Glut« hat ein Kraftzentrum in den Fotografien, aus denen Matiss Zelcs seine dunkle Phantasmagorie liest: Hier rührt Kelemen an die Leerstellen, von denen nicht nur Matiss Zelcs umgetrieben wird – der Wille zum Wissen, aus dem erst Geschichten entstehen, wie sie einem einsamen Archivar so einfallen.

BERT REBHANDL

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Oktober 2005, Nr. 238
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