» Feuilleton FAZ | Text: Jens Jessen | 09.02.1996, Nr. 34, S. 33
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Schmerz zu treuen Händen
Wahrscheinlich genial: Fred Kelemens Film "Verhängnis"


Lange bevor Fred Kelemens Film "Verhängnis" (nicht zu verwechseln mit Louis Malles gleichnamiger Kolportage) in die Kinos kam, war schon Lobpreisen und Raunen um ihn. Er war auf Wettbewerben in Berlin, Saarbrücken, Bogotá und Kiew, er bekam Auszeichnungen überall, darunter nur mit Knirschen das Filmband in Silber des Bundesfilmpreises, weil ihm eine Minute an vorgeschriebener Spielfilmlänge fehlte. Die relative Jugend des Regisseurs, die Schönheit der Hauptdarstellerin, Düsternis und Obszönität der Geschichte hatten sich zu einer Legende verdichtet, obwohl das Avancierte, Experimentelle, das die Vorabkritik lobte - und dazu an einem deutschen Film! -, nichts Gutes erwarten ließ. Es gab in den letzten zwanzig Jahren zu viele deutsche Filme, die immerfort als Experiment gerechtfertigt wurden.
Tatsächlich aber ist Kelemens Film experimentell und trotzdem großartig, wahrscheinlich genial. Er experimentiert nicht nur, sondern das Experiment gelingt auch. Der seltsam malerisch-impressionistische, fast pointillistische Effekt, der durch die rücksichtslose Vergrößerung von Videomaterial auf Kinoformat entsteht, entfaltet seine suggestive Wirksamkeit schon mit den ersten Bildern, die eigentlich noch dokumentarischer Natur sind, nur das Milieu bestimmen sollen und mit einer Handkamera aufgenommen wurden, die Odachlose und Bettler auf dem Berliner Alexanderplatz beobachtet. Die grobkörnige, wie aus Pinseltupfen zusammengesetzte Bildtextur entrückt jedoch das Dokumentarische, indem sie es zu alter Malerei verfremdet, zugleich ins Exemplarische. Dieser Effekt braucht, anders als andere Verfremdungen moderner Kunst, keine Theorie, um seine Botschaft verständlich zu machen. Sie wird unmittelbar ästhetisch plausibel. Sie sagt: von jetzt an ist alles Kunst, also Gleichnis. Wie die Drogensüchtigen, die Invaliden und Asylanten schwanken, wie sie lachen, wie ihre Augen sich furchtsam verschleiern oder weiten, es ist ein Tanz, es ist mit einer Videohandkamera aus dem Alltag gegriffen und wirkt doch als Choreographie des torkelnden, blinden, blind-frohen, blind-angstvollen Menschenlebens.

Die barocke Vanitas-Metaphysik dieses Films entspringt schon seiner formalen Bildästhetik, ehe er seine Fabel überhaupt zu erzählen begonnen hat. Diese ist freilich von vergleichbar barocker Schwärze. Sie ordnet ihre Figuren zu einem Reigen des Schmerzes, der von Mensch zu Mensch weitergereicht wird. Der erste Schmerz ist der Schmerz des exilierten Argentiniers, der sich von einem russischen Akkordeonspieler (Valerij Federenko) die Tangos seiner Heimat vorspielen läßt. Erst bezahlt er ihn für diese Sehnsuchtsfolter mit Geld, dann nötigt er ihn noch, eine Flasche Schnaps zu leeren. Sturzbetrunken und wehklagend zieht der Russe durch Berlin, bis er in der Wohnung seine Frau mit einem Liebhaber trifft. Das ist der zweite Schmerz. Der dritte Schmerz aber ist der Schmerz der Frau (Sanja Spengler), deren Liebhaber von dem Mann niedergeschossen wird und die nun ihrerseits verzweifelt durch die Stadt irrt, ihre Blöße nur vom Mantel bedeckt, und in einer Kneipe kollektiv vergewaltigt wird.

Das Konstruierte der Fabel tritt freilich erst im nachhinein und für den gliedernden Verstand zutage; dem Betrachter des Films ist es ein düsterer Rausch und von der magischen Plausibilität eines Albtraums. Nie hat ein dermaßen artifizieller Film eine dermaßen naive Rezeption des schaudernden Miterlebens provozieren können wie Kelemens "Verhängnis"; allein für diese Verschränkung von Kunstraffinement mit einer ebenso raffinierten Rezeptionspsychologie gebührt ihm ein Platz in der Filmgeschichte. Zum Zwingenden seiner Albtraumbilder trägt ein hochgezüchteter Sinn für Spannungsbögen bei; obwohl der Film nur aus zwei Dutzend Einstellungen besteht und alle suggestiven Möglichkeiten des Schnittes ungenutzt läßt, entsteht niemals jener Eindruck von Statik und Ungeschick, der andernorts die Ästhetik der Langsamkeit so dilettantisch scheinen läßt.

Fred Kelemen kommt von der Malerei: das gibt seinen Bildern das Licht, die Textur und die Ikonographie von Gemälden; und er kommt vom Theater: das gibt ihm den Instinkt für den Moment, in dem der Vorhang fallen muß. Keine Szene ist eine Sekunde zu lang oder zu kurz, auch sie wird bis zu einem Höhepunkt schmerzhafter Empathie des Zuschauers getrieben, dann folgt der Schnitt; wie ein Fallbeil. Man muß kein Avantgardebewußtsein mit sich bringen oder in gesteigerter Erwartung moderner Filmkunst stehen, damit dieser Film mit der Wucht einer elementaren Depression über einen kommt. Der Film selbst ist in gewisser Hinsicht das Verhängnis; jedenfalls eines für das seelische Gleichgewicht des Zuschauers. Die Musik, die Liebe, der Rausch: alles, was schön ist, wird hier denunziert; jedenfalls insofern, als es zum Werkzeug des Fatums wird.

Selten ist das Glitzern von Schnaps in einer Flasche so funkelnd verführerisch fotografiert worden; aber nicht, um die Schönheit des Alkohols zu feiern, sondern um die Schönheit durch den Alkohol zu denunzieren: als Mutter der Alkoholvergiftung und anderen Unheils. Selten ist der schöne Körper einer schönen Frau so ausführlich vorgeführt worden; aber nicht um das Begehren zu feiern, sondern um es als Quelle von Eifersucht, Gewalt und Notzucht plausibel zu machen. Selten auch hat Musik einen Film derart, bis zur Bedeutungslosigkeit aller Dialoge, dominiert; doch diese Musik, die dem Akkordeon des Russen entspringt, aber sich zur Kraft einer Orgel (und zur Dämonie der Bachschen d-moll-Toccata) steigern kann, ist keine Himmelsmacht. Sie treibt das Verhängnis voran; und da sie nicht nur Teil der Handlung, sondern zugleich Mittel des Films ist, zieht sie diesen selbst und damit alle Kunst ins Zwielicht des ebenfalls Fatalen.

Jedoch nicht nur in diesem konstruktiven Sinne ist der Film Teil des Menschenunglücks; er läßt auf subtile und heikle Art den Zuschauer selbst am Unglück mitarbeiten, indem er ihn zum Voyeur der verzweifelten, erniedrigten, schließlich vergewaltigten Frau macht. Abermals könnte Kelemen ein Platz in der Filmgeschichte gebühren: für die beispiellose, grausamer und anrührender nicht denkbare Entblößung der Frau, die mit dem klischeehaften Wort vom Mut zur Häßlichkeit nicht annähernd beschrieben werden kann. Recht eigentlich häßlich wird Sanja Spengler nie; aber sie geht einen Weg der physischen Demontage und sexuellen Demütigung, der nur deshalb nicht pornographisch endet, weil ein merkwürdiges, fast christliches Mitleiden und Erbarmen den Blick der Kamera steuert.
Doch gilt es nicht etwa dem exemplarischen Opfergang einer Frau. Vielmehr schimmert in ihrem Verhalten stets auch eine bald exhibitionistische, bald masochistische Lust an der eigenen Verführungskraft auf, so daß eine Entlastung des aufgewühlten Zuschauergewissens noch nicht einmal aus einer eindeutigen moralischen Identifikation der Frau als Opfer kommen könnte; sie ist stets sowohl Objekt wie Subjekt ihres Leidens und verstärkt damit noch das metaphysische Zwielicht menschlicher Ohnmacht und Hinfälligkeit, das über dem ganzen Film liegt.

Und es gibt ein weiteres, versteckter liegendes Moment, das den irritierend barocken, religiösen Eindruck des Films verstärkt. Er hat, einem Altarbild vergleichbar, die Gestalt eines Triptychons. Er besteht aus drei Geschichten, und die mittlere ist Hauptstück und Verbindungsglied der äußeren. In ihr überlappen sich die Geschichte des Mannes und die der Frau; er übergibt an sie, was ihm der Argentinier angetan hat, er gibt den Schmerz zu treuen Händen, und sie erst kostet ihn, man kann es wohl sagen, bis zur bittersten Neige aus.
Erst ganz am Ende, am äußersten Rand des letzten Bildes sozusagen, als sie ihn wirklich geleert und ausgetrunken hat, taucht auch der Mann wieder auf. Sie sind nun quitt, sozusagen auf gleich. (Darin, daß der Mann noch einmal auftaucht, liegt eine kleine Asymmetrie des Triptychons, die aber seine Schönheit nur steigert.) Mann und Frau stoßen in einer Kiesgrube oder auf der Sohle einer gewaltigen Baugrube aufeinander; wortlos beginnen sie abermals einen gemeinsamen Weg zu nehmen. Wie sie aber so, in neuer prekärer Gemeinschaftlichkeit, weitergehen, hebt in ihrem Rücken ein großes Rattern und Quietschen an. Es folgt ihrem Weg, es folgt ihnen buchstäblich auf dem Fuß. Es ist überlebensgroß und gelb und rostig, es ist ohne Frage das Verhängnis selbst in seiner allegorischen Gestalt. Es ist die sofort, mit der Gewalt einer Epiphanie einleuchtende Gestalt eines Bulldozers. Was ist der Mensch vor dem Bulldozer? Der Bulldozer, der dem Paar auf seinem Lebensweg hinterherrattert und mahlt und quietscht, ist das letzte, auf seine bizarre wie banale Weise eindrücklichste Vanitas-Zeichen dieses meisterhaft verzweifelten Films.
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