» Feuilleton FAZ | Text: Veronika Rall | 28.09.1994, Nr. 226, S. 36
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Gesichter in der Menge
Das neunzehnte internationale "Festival of Festivals" in Kanada


TORONTO, Ende September
Eine filmische Stadt. Den Blicken des Flaneurs öffnen sich an vielen Ecken Perspektiven, denen nur der Rahmen fehlt: Alte, rotbraune Ziegelbauten spiegeln sich in blauglänzenden Fassaden, niedrige Bauten zieren als Vordergrund die Skyline der Konzerne, und so bricht Geschichte gelegentlich durch den blanken, oberflächlichen Schein der Gegenwart. Sie tut es auch dort, wo endlose Schlangen vor den Kinos stehen und um eine Eintrittskarte bangen: Festivalvorstellungen sind zu jeder Zeit ausgebucht, in den öffentlichen Vorführungen steht die Kaufkarte vor dem Pressezutritt, und das Publikum nimmt regen Anteil an den folgenden Diskussionen. Welch eine Liebeserklärung ans Kino und die Filmemacher.

Das Festival von Toronto versteht sich als "Festival der Festivals", das heißt, es konzentriert sich nicht unbedingt auf Entdeckungen, sondern auf Filme, die andernorts schon präsentiert wurden, es stellt die Preisträger aus Berlin, Cannes und Locarno dem kanadischen Publikum vor. Sein innovativer Schwerpunkt liegt auf dem nordamerikanischen Kino - doch waren insbesondere diese Produktionen 1994 eine große Enttäuschung. Die Klassiker unter den Independents filmen inzwischen mit großen Budgets, bekannten Stars und produzierten meist glatte Filme: Im demnächst in Deutschland anlaufenden "Amateur" von Hal Harley glänzt allein Juliette Binoche; John Sayles' "The Secret of Roan Inish" scheitert an dem Versuch, die Magie, die sein "Passion Fish" aufblitzen ließ, über hundert Minuten zu dehnen; allein in Alexandre Rockwells "Somebody to Love" bricht der Zauber des Kinos für Momente durch, wenn Samuel Fuller, soeben dem Wrack seines Rolls-Royce entkommen, Rosie Perez verspricht, er werde ihr Leben als Taxitänzerin verfilmen. Aber leider war es nicht Fuller, sondern Rockwell, der dieses Star-Vehikel realisierte, und es bleibt ein beliebiges Dramolett, das weder die Leichtigkeit von Rockwells letztem Film, "In the Soup", zeigt noch in tiefere Schichten dringt.

Die jungen amerikanischen Filme sind schon alt, bevor sie das Licht der Leinwand erblicken, und ihre Regisseure scheinen Angepaßte aus der Welt des Filmbusiness: Produktionsassistenten, Fernsehautoren, Schauspieler, Drehbuchautoren, Musikvideoproduzenten. Eine vielversprechende Ausnahme ist allein David Jacobson, dessen in körnigem Schwarzweiß gehaltener "Criminal" die brutale menschliche Ökonomie zwischen Beruf, Beziehung, Familie einfängt. Nicht zufällig spielt die Schlüsselszene an den Niagarafällen, doch bleiben die Bilder ohne jene Dramatik, die seit Marilyn Monroes Auftritt in Henry Hathaways "Niagara" unsere Vorstellung der Wasserfälle an der kanadisch-amerikanischen Grenze geprägt hatte. Aber glücklicherweise sind sie von Toronto aus leicht zu erreichen, und manch ein europäischer Cineast mochte das Naturschauspiel mit den Filmbildern vergleichen, die seine Erinnerung abrief. Er wurde nicht enttäuscht: Kanada ist ein filmisches Land.

Vielleicht auch deshalb findet sich hier eine blühende Filmszene, in der junge Experimentalfilmer mit arrivierten Regisseuren diskutieren. Das Festival legt mit der "Perspective Canada" die Matrix für diese Auseinandersetzungen, die selbst die Konkurrenz um den hochdotierten Preis nicht zerstört, der in diesem Jahr aufs neue an Atom Egoyan ging. Das ist schade: "Exotica" ist zwar kein schlechter Film, doch hätten andere diese Auszeichnung eher gebraucht. Vielleicht auch nicht Bruce McDonald, der für sein neues Projekt "Dance me outside" in Norman Jewison einen finanzkräftigen Produzenten gefunden hat. Aber doch die kleinen, unabhängigen Filmemacher wie etwa Peter Mettler, der mit "Picture of Light" eine wunderbare, poetisch- dokumentarische Reflexion auf das Nordlicht, die aurora borealis, zeigt.

Die Überraschung des Festivals war jedoch ein deutscher Film, eine kleine Produktion der Filmakademie Berlin, die jeden Rahmen und insbesondere das unter Filmkritikern gern hingeworfene Verdikt - "das Leben ist zu kurz, um sich einen deutschen Film anzusehen" - sprengt. Die Rede ist von Fred Kelemens "Verhängnis" (er lief in Kanada unter dem Titel "Fate"), der auf dem Festival zwar nicht mit dem Hauptpreis, aber immerhin mit einer "besonderen Auszeichnung" der Fipresci-Jury bedacht wurde. Der leichte Anfang zeigt Gesichter aus der Menge, doch bald bleibt die Handkamera länger auf einem einzigen stehen. Der Film beginnt nun in körnigen, dunkel gehaltenen Farbbildern die Geschichte zu erzählen, die hinter diesem Gesicht steckt, und das Publikum begreift, daß die Auswahl letztlich beliebig ist: Jedes Gesicht ist die Fassade einer Geschichte, einer ganz individuellen, gleichzeitig jedoch allgemeinen Tragödie. In allein zwölf Einstellungen, die den zwölf Gesichtern des Prologs entsprechen, entwickelt Kelemen diese Geschichte mit einer brutalen Direktheit, wie wir sie nur von Bresson kennen, und einer visionären, spektakulären Kraft, wie sie im deutschen Film zuletzt bei Fassbinder zu sehen war.
Die Handlung des Films ist knapp und so alt wie die Menschheit - oder soll man sagen wie das Kino? Sie dreht sich um die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau, um die Gewalt der Liebe. Doch hat ihr Kelemen insbesondere über die hemmungslose Kameraarbeit eine Form gegeben, die die ganze Verzweiflung und das gesamte Inferno ausmißt. Ein Beispiel: Der Mann dringt in die Wohnung der Frau ein, er findet sie mit einem Liebhaber, er erschießt ihn. Wo nun jeder Film auf das entsetzte Gesicht der Frau schneiden würde, behält "Verhängnis" mit der Handkamera die Einstellung bei: Der Mann steht rechts, die Frau links im Bild, zwischen ihnen liegt die Leiche. Der Mann flieht aus dem Raum und aus dem Bild, die Frau jedoch bewegt sich langsam, ganz langsam in die Mitte des Rahmens und verstellt zunächst die Perspektive auf den toten Körper. Doch als wollte sie sich den Blick nicht nehmen lassen, gleitet die Kamera zwischen ihre geöffneten Beine. Mit diesem brutalen Akt, der einer Vergewaltigung der Frau durch die technische Apparatur entspricht, eröffnet sich uns der ganze psychische Raum der Katastrophe. Das Publikum ist vom bloßen Mitleid weit entfernt, weil wir tatsächlich physisch mitleiden, weil wir die gnadenlosen Bilder schmerzlich am eigenen Leib erfahren.
Kelemen hat seinem Film einen Satz des Dalai Lama vorausgestellt: "Die Entfernung zwischen unserem gegenwärtigen Leben und einer Höllenexistenz kann natürlich so gering sein wie ein einziger Atemzug." In "Verhängnis" bemißt sich diese Distanz nicht nur nach Atemzügen, die die minutenlangen Einstellungen zählen, sondern ebenfalls in den Winkeln des filmischen Raums, den die bewegte und bewegende Kamera in dieser Zeit durchschreitet. Es bleibt zu wünschen, daß ein deutsches Publikum nicht erst die Entfernung nach Toronto überwinden muß, um diesen Film zu sehen. Es sei denn, jemand würde ohnehin - mit Marilyn Monroes Verzweiflung im Herzen - in einem gelben Regencape im Donner und Sprühregen der Niagarafälle stehen wollen
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