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Text zum Katalog von „KAROT - Retrospektive des armenischen
Films“, Kino Arsenal Berlin, 5. bis 31. Mai 2007
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Hoffnungsspuren neben Todeslinien
„Berlin, Stadt des Nordens, Todesstadt, wo vereiste Fenster starren
wie der Todkranken Augen... Stadt eisigen Wahns, des Kampfes in Dunkel
und Gefängnis... Alte Menschenfresserin, deine schlaffen Brüste
kollern unter papierenem Hemd, du bist erblindet in geheimnisvollem Schlamm.
Aus welch fernem Jahrtausend trittst du hervor und wirfst du dich wälzend
über die edlen Wandteppiche Europas?“, läßt Yvan
Goll seinen Roman „Sodom Berlin“ 1929 beginnen. Etwa ein Jahrzehnt
nach dem ersten und etwa genauso lange vor dem zweiten Weltkrieg. „Berlin,
Stadt des Nordens, Todesstadt“, Stadt von der schon vorher der Tod
in die Welt geschickt wurde und die auch später wieder Zentrum des
Todes und der Vernichtung von Millionen Menschen war.
Von Berlin aus fuhren nicht nur deutsche Offiziere und Soldaten in militärischer
Mission als Verbündete des Osmanischen Reiches in den Orient, von
Berlin aus sollte auch die Bagdad-Bahn fahren; auch durch armenisches
Gebiet. Später rollten auf den Gleisen der nie fertiggestellten Bagdad-Bahn
Viehwaggons, die mit zur Deportation bestimmten Armeniern beladen waren.
Das Bild von Menschentransporten in Viehwaggons begegnet uns später
wieder, als sie quer durch Europa fahren, und ist bis heute eine jener
emblematischen Erinnerungen des Holocausts. Auch anderes aus jener Zeit
hat seine Vor-Bilder im Armenien der Jahre 1915/16. So der Einsatz von
Musikkapellen zur Übertönung der Schreie Gefolterter, die Vernichtung
von Menschen durch Arbeit, Konzentrationslager, eine biologistische Sprache
zur Entmenschlichung der Opfer und vieles mehr.
Später wurde in Berlin in der Hardenberg- Ecke Fasanenstraße
am 15. März 1921 Talaat Pascha, der ehemalige Innenminister des Osmanischen
Reiches, von einem Armenier erschossen.
Nun findet in Berlin, nicht all zu weit entfernt von diesem Ort, im Kino
Arsenal am Potsdamer Platz, dem damals verkehrsreichsten Platz Europas,
der später nach dem Zweiten Weltkrieg einer Wüste glich, eine
Retrospektive des armenischen Films statt. Die erste diesen Umfanges in
Deutschland. Sie trägt den Titel “Karot“, was mit dem
Wort „Nostalgie“ nur unzureichend übersetzt wäre,
verbinden wir in unserer Sprache damit doch einen rückwärtsgewandten,
sentimentalen, verklärten Blick in unwiederbringliche Zeiten. „Karot“
bedeutet jedoch mehr, Weiteres, als der enge Begriff „Nostalgie“,
beinhaltet er nämlich sowohl die Sehnsucht nach etwas Verlorenem,
das Heimweh, als auch die Sehnsucht nach etwas, das in der Zukunft liegen
mag, an dem es uns aber in der Gegenwart schmerzlich mangelt, nach etwas
Unbestimmtem vielleicht, Unnennbarem, aber in seiner Abwesenheit wesentlich
Existentem. Diese Sehnsucht eint mehr oder weniger alle Filme der Reihe
und sie verbindet die Geschichte Armeniens mit seiner Kunst, wobei sie
vielleicht auch ein bestimmendes Element jeder Kunst ist.
In Berlin eine Retrospektive des armenischen Films zu präsentieren,
ist unmöglich ohne vor allem jenen Teil der Geschichte zu thematisieren,
der die beiden Länder verbindet. Daher wird das Filmprogramm begleitet
von vier Abenden, an denen auch über diese Verbindungslinien gesprochen
werden soll, die Linien des Todes sind. Neben diesen Todeslinien der Geschichte
zieht sich aber immer jene Spur von Sehnsucht, die Hoffnung ist; Hoffnung,
daß die Spur einmal zur Wirklichkeit des in seiner Abwesenheit schmerzlich
Existenten führt. Dort könnte es das Ende jenes Schmerzes geben.
Und dieser Ort könnten für Augenblicke die Dunkelheit und das
Licht eines Kinos, könnte ein auf eine Leinwand projizierter Film
sein.
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Fred Kelemen
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