» IM DUNKLEN SPIEGEL - Von Irrlichtern und Bildern
.............................................................................................................................................................. Jonas Mekas Lecture
der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

von Fred Kelemen

Ich möchte zwei Zitate voranschicken:

"Ein Menschenwerk ist nichts anderes als ein langes Unterwegssein, um über die Umwege der Kunst die zwei oder drei schlichten und großen Bilder wieder zu finden, durch die sich das Herz zum ersten Mal geöffnet hatte." (Albert Camus)

'Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Paulus 1. Kor. 13,12

Wenn wir angesichts der heute inflationär in einem nicht abreißenden Strom um die Welt und durch unsere Köpfe kreisenden überwiegend digitalen, sich bewegenden Bilder über ihre "Interkulturalität", ihre den Einblick in jeweils andere Kulturen, Lebenswelten und Existenzweisen öffnende oder verschleiernde Form und Absicht sprechen, oder auch nur darüber nachdenken, setzen wir das Sehen voraus. Denn was wir sehen, sind Bilder. Bilder sowohl der sich uns visuell vermittelnden Realität, als auch Bilder, die von Menschen geschaffen wurden, doch gleichsam Teil unserer visuellen Realität sind. Wir setzen also das Sehen voraus. Nun gibt es aber Menschen, die blind sind; sogar von Geburt an. Führt die Abwesenheit des Visuellen, der Bilder zur Abwesenheit der Realität? Sicher nicht. Da die Abwesenheit der Bilder nicht auch die Realität verschwinden läßt, sind die Bilder offensichtlich nicht identisch mit der Realität und nicht notwendig an sie gebunden. Es gibt Realität jenseits der Bilder, unabhängig von ihnen.
Wenn nun aber die Bilder nicht die Realität sind, was sind sie? Soweit sie wahrhaftig Bilder sind, sind sie visuelle Manifestationen der Realität, sie deuten auf eine solche hin. Ansonsten sind sie Irrlichter, die auf nichts hindeuten und uns im Sumpf ertrinken lassen.
In einer Welt der Inflation zirkulierender, von Menschen geschaffener Bilder ist allerdings möglich, daß wir nichts mehr sehen, da die Bilder nichts mehr zeigen, auf nichts mehr hindeuten, keine jenseits von ihnen sich befindende Realität mehr zeigen, sondern diese verschleiern, zudecken, irrlichternd im Unsichtbaren, Unbemerkten verborgen halten und von ihr ablenken.
Weder die Realität des Eigenen noch des Fremden wird in ihnen sichtbar, weder das Eigene, die eigene Erfahrung, das eigene Befinden, das eigene In-Der-Welt-Sein mit all seinen Facetten, Spannungen, Sehnsüchten und Kämpfen erscheint in den Irrbildern, noch kann das In-Der-Welt-Sein des Anderen darin gesehen oder gar erkannt werden. Es gibt die Bilder, aber es vibrieren in ihnen keine Welt und sein Geist. Der Grund dafür sind die Strukturen und Zwecke der Fabrikation der Bilder selbst. Sollen die Bilder global zirkulieren und reibungslos konsumiert werden, d. h. heute, auch schnell erfaßt werden, so sind sie auf die eine Dimension der schnellen Aufnahme einer oberflächlichen Information reduziert; statt des Befindens zeigen sie bestenfalls den Befund, sie erklären, doch sie erzählen nicht. Denn das Erzählen gilt dem Befinden und nicht dem Befund, es muß demnach erlitten und erlebt werden. Erzählen als Hüter der Zeit ist auch Erzählen als Heilung, wie Walter Benjamin es nennt in "Erzählen und Heilen". Gelingendes Erzählen ist Öffnen - nicht Verschließen. Damit Bilder erzählen können, braucht dieses Erzählen andere Bilder als die Wiederholung von Klischees und formelhaften Bildmustern mit einer geglätteten, makellosen, dichten Oberfläche, die beim Betrachter nur einen beabsichtigten Reflex auslösen wie bei einem pawlowschen Hund, aber keine Reflexion oder echte Empfindung, keine Erschütterung, ob positiver oder negativer Art, und so kein Schauen einer Wirklichkeit. Wie also läßt sich zu Bildern gelangen, die etwas erzählen, die etwas sagen - über mich selbst oder den anderen und in einer tieferen Ebene über uns beide, über unser Menschsein -, die auf eine Realität wahrhaftig hinweisen und den Blick in sie öffnen? In diese anderen Bilder muß fraglos jene Wirklichkeit, auf die sie hinweisen, hinein strahlen. Und das Bild muß transparent genug, durchlässig genug sein, dieses Strahlen zum Betrachter hindurch zu lassen, an ihn weiter zu geben. In einer leichten Abwandlung eines Zitates von Paul Ricoeur läßt sich sagen, der Sinn, der metaphysische Inhalt - nämlich jenes Strahlen - der Erzählung eines Bildes muß sich erraten lassen können. Es ist die Legende, die der Betrachter dem Bild in kreativer Weise beistellt. Und auf diese Legende, die von der Wirklichkeit erzählt, auf die das Bild hinweist, kommt es an. Sie kann eine komplexe Erzählung oder eine Emotion sein, die etwas vom Menschsein erzählt, oder gar eine nur schwer in Worte zu fassende ontologische Ahnung, die nur in jenem kristallinen Moment eines Bildes beschwörend aufscheinen kann.
Der wesentliche Aspekt der Strahlung, die ein wahres Bild im Gegensatz zu einem Irrbild abgibt und die Oberfläche durchdringt, ist die Schönheit. Danit ist nicht die ästhetische Erscheinung eines Fashion-Magazins gemeint, sondern jene Schönheit, die laut Fjodor Dostojewski die Welt retten wird, und von der André Bréton sagt: "Schönheit ist erschütternd, oder sie ist nicht", wozu Susan Sontag in ihrem Buch "Das Leiden anderer betrachten" schrieb: "Aber in einer Kultur, die durch die zunehmende Verbreitung kommerzieller Wertvorstellungen von Grund auf umgemodelt wurde, zeugt die Forderung nach grellen, schrillen, verblüffenden Bildern eher von solidem Realismus und gesundem Geschäftssinn. Wie anders soll man Aufmerksamkeit auf das eigene Produkt, die eigene Kunst lenken? Wie anders soll man bei Leuten einen Eindruck hinterlassen, die einer ununterbrochenen Flut teils neuer, teils ständig wiederkehrender Bilder ausgesetzt sind? Das Bild als Schock und das Bild als Klischee sind zwei Seiten des gleichen Phänomens. "
Das Bild als Schock kann nur sein Absinken in das Klischee vermeiden, wenn es, wie zuvor erwähnt, einem Strahlen durchlässig Erscheinung gibt, das auf die hinter ihm seiende Wirklichkeit hinführt, eine Schönheit erfahren läßt, die schrecklich, die, wie Fjodor Dostojewski sagt, ein Rätsel ist, die den Betrachter erschüttert, ihn trifft und aufbricht für etwas, das jenseits des Bildes ist, das über etwas spricht und von etwas anderem erzählt, das tief in uns als Wirklichkeit - der einzigen, die es gibt - verborgen ist und im dunklen Bild jenes Spiegels strahlt, von dem der Apostel Paulus spricht. Dort verwirklicht die Schönheit, bei der es sich auch um eine ethische Dimension handelt, die Bedeutung ihrer Herkunft aus dem Sanskrit, Bet-El-Za, das bedeutet "der Ort, an dem das Göttliche scheint". Bilder, die auf es hinweisen, führen uns in jene Wirklichkeit jenseits der dunklen Bilder im Spiegel der Oberfläche unserer visuell wahrnehmbaren Welt, führen uns zum Rätselraum der Schönheit und in uns hinein und zum Anderem, zum Menschen, über den Sophokles sagen läßt: "Unheimlich ist vieles, doch nichts ist unheimlicher als der Mensch."
In diesem Sinne würde die Schönheit die Welt retten durch Mitleiden, Mitfühlen, Liebe, was nur den wahrhaftigen Bildern möglich ist, während die Irrlichter uns verloren gehen lassen - uns selbst und einander.

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(Vortrag gehalten am 27. Januar 2015 am
filmwissenschaftlichen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz)