» Frankfurter Allgemeine Zeitung | 08.06.2001 | Text: Matthias Ehlert
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Nachtgestalten
"Desire" im Prater


Am Prater, der kleinen Spielstätte der Volksbühne, hat man in dieser Spielzeit versucht, Theater und Film zu einer Art "Film-Theater" zu kreuzen. Die meisten der Versuche gingen schief, aber zumindest zwei ergaben recht beachtliche Inszenierungen. Dazu gehört - neben René Polleschs "Frau unter Einfluß" - auch das Theaterdebüt von Fred Kelemen, den man bisher als Filmregisseur mit einer besonderen Vorliebe für die dunklen, schmerzvollen Seiten des Lebens kannte.

Das Stück, das Kelemen wählte, Eugene O'Neills "Gier unter Ulmen" aus dem Jahre 1924 (im Prater umbenannt in "Desire"), paßt in diese triste Reihe. Es erzählt von einsamen, in ein tragisches Schicksal verstrickten Menschen auf einer Farm in Neuengland, deren versteinerte Herzen nach Liebe gieren. Zwei Brüder sitzen stumpf vor einem Haus, hinter dessen Fenstern es rot glüht, als brenne dort das ewige Fegefeuer. Das Haus ist weit und breit das einzige in der Gegend, ansonsten nur Steine, Kakteen und ein bedrohlich pfeifender Wind. Die beiden Brüder warten auf ihren Vater, der weggefahren ist, um sich eine Frau zu suchen. Als er erfolgreich zurückkehrt, macht sich ein Bruder auf den Weg nach Kalifornien, während der andere weiter wartet, um irgendwann einmal sein Erbe anzutreten.
Die neue Frau des Vaters ist die junge, lebenshungrige Abbie (Kathrin Angerer). Sie hängt als erstes ihre Wäsche auf, um ihr Territorium zu markieren, um Haus und Farm in Besitz zu nehmen. Doch sie kann an ihr Ziel nur gelangen, wenn sie dem Alten einen Sohn schenkt. Eben (Fabian Hinrichs), der um sein Erbe fürchtet, reißt die Wäsche von der Leine. Beim Vater (Winfried Wagner) fällt er dafür in Ungnade, während die junge Stiefmutter beginnt, ihm lange, sehnsüchtige Blicke zuzuwerfen.
Immer mehr Szenen, vor allem die im Haus spielenden, werden inzwischen auf einer von zwei großen Videowänden übertragen. Anfangs ist nicht ganz klar, ob sie live aufgenommen werden, aber dann beginnt Kelemen, auf diese täuschende Synchronität zu verzichten. Nun verdoppeln sich die Schauspieler. Abbie sitzt im Schaukelstuhl vor dem Haus und schaut sich selbst auf der Leinwand zu, wie sie den Sohn beim Tanzen verführt und wie sie später im Bett neben dem ungeliebten Vater liegt.

Irgendwann ist die Bühne vollkommen menschenleer und nur noch in schönes nachtblaues Licht getaucht. Das Geschehen spielt sich jetzt ausschließlich auf der Leinwand ab, das Theater ist nun völlig in Film übergegangen. In sensiblen Nahaufnahmen fährt die Kamera über die Gesichter, begleitet die Getriebenen durch das düstere Haus und wendet sich ab, wenn das Unzeigbare geschieht. Um dem verunsicherten Eben zu beweisen, daß sie nur ihn liebt, bringt Abbie ihr Kind um. Der fassungslose Eben will sie erst anzeigen, begreift dann aber den ungeheuerlichen Liebesbeweis und tötet Abbie, um sie von ihrer Schuld zu befreien. Erst nach diesem gegenüber dem Original noch zugespitzten Ende kehren die Schauspieler wieder auf die Bühne zurück. Auf raffinierte Weise führt Kelemen dem Theater hier vor, wie es vom Film im Laufe der Zeit enteignet wurde, wie Figuren und Geschichten, Kitsch und Melodram auf die Leinwand auswanderten und am Ende nur ein leeres, ratloses Theater zurückbleibt.
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MATTHIAS EHLERT