» Ray Bradburys «Fahrenheit 451» ist bei Kelemen längst Realität

Hannover / dpa
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Mehrere große Quadrate bilden eine riesige Leinwand auf der Bühne. Zu sehen sind Feuerwehrmänner in Schutzanzügen und mit Helmen auf dem Kopf. Flammen lodern auf, als sie beginnen, Bücher in das Feuer zu werfen.
Für den deutschen Regisseur Fred Kelemen, dessen Theaterversion von "Fahrenheit 451" im Rahmen des Festivals Theaterformen in Hannover Premiere feierte, ist Bradburys Vision die überhöhte Zustandsbeschreibung einer Welt, in der wir längst leben. Umgeben von Fernsehbildschirmen, unterhalten von pseudopersönlichen Talkshows und Mitspielserien frönen die Menschen einem fröhlichen Oberflächenindividualismus, dem sie nur manchmal durch die Einnahme von Schlaftabletten zu entrinnen versuchen. Auch Gregor Montag (Wolfgang Michalek) hat sich gemeinsam mit seiner Frau (Susanne Jansen) dieser Welt verschrieben, als Feuerwehrmann ist er sogar ihr "Vollstrecker".
Erst durch die Begegnung mit dem Mädchen Clara (Simone Henn) wird er sich seiner Gefangenschaft bewusst. Mit ihr erlebt er Dinge, die seinem Leben wieder einem Sinn geben, seine erstarrten Gefühle wieder zum Leben erwecken. Und sei es nur, dass sie nachts auf der Straße probieren, wie der Regen schmeckt. Clara ist rätselhaft und so ganz anders, als die Menschen, die ihn sonst umgeben. In ihrer Freizeit erstellt sie die "Liste der trostlosen Augenblicke" oder die "Liste, die das Herz schneller schlagen lässt". Eines Tages ist Clara verschwunden und langsam dämmert es Montag, dass sie zu "den Anderen" gehört, den Staatsfeinden, die heimlich Bücher lesen.

Geschickt stellt Kelemen die beiden gegensätzlichen Welten durch verschiedene Medien dar. Die Begegnungen zwischen Clara und Montag erleben die Zuschauer in Filmsequenzen, die der Regisseur mit den Schauspielern an verschiedenen Orten in Hannover gedreht hat. Durch die schonungslose Kameraführung, die manchmal minutenlang den Gesichtsausdruck eines der beiden Protagonisten festhält, wirken die gedrehten Szenen viel intensiver als das Schauspiel auf der Bühne, das den Alltag in der schönen neuen Welt wieder gibt. Dadurch, dass sich die Schauspieler auf der Bühne beim Agieren auf der Leinwand zusehen, vermischen sich beide Kunstformen und lassen etwas Neues entstehen.
Fred Kelemen, Jahrgang 1965, hat bisher drei Filme gedreht. "Verhängnis", sein Abschlussfilm an der Berliner Filmakademie, lief auf mehreren Festivals, wurde in den USA einer der zehn besten Filme des Jahres 1995 und erhielt im selben Jahr in Deutschland den Bundesfilmpreis. "Frost" entstand 1997/98 für das ZDF, "Abendland" folgte 1999. Danach hat sich seine Suche nach den "anderen Mitteln" auf die Schnittstelle zwischen Film und Theater verlagert: Mit "Desire" nach Eugene O'Neills "Gier unter Ulmen" zeigte er vergangenes Jahr in Berlin eine erste Aufführung, die sowohl auf der Bühne als auch auf der Leinwand spielte.

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(Erschienen: 12.06.2002) Schwäbische.de