» Film ist Höhlenmalerei | Mit Fred Kelemen sprach Erika Richter | Juni 2002
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Fortsetzung Text: Film ist Höhlenmalerei

Hintergründe
E. R.: In all Deinen Geschichten spielt das Östliche oder Südöstliche eine große Rolle. Liegt das in Deinen Genen oder gab es bestimmte Einflüsse, die dazu führten? Oder sind solche Figuren oder Geschichten eine besonders gute Projektionsfläche, um uns für die Gesellschaft, in der wir leben, zu sensibilisieren?
F. K.: Ich glaube, da spielen mehrere Dinge eine Rolle. Das erste ist mit Sicherheit, daß ein Teil meiner Familie aus Ungarn stammt. Ich wurde von einer ungarischen Mutter erzogen. Und schon als Kind wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, daß mein Großvater zum Beispiel nicht bei uns war, da er in Budapest lebte. Ich mußte verstehen lernen, warum er nicht kommen konnte, daß er in Osteuropa lebte und daß das zu einem anderen politischen System gehörte, man nicht einfach reisen konnte etc. Es herrschte noch der sogenannte "Kalte Krieg". Irgendwie wurde mir die Abwesenheit eines Teiles meiner Familie und ihre Geschichte erklärt, und ich mußte es verstehen. Das sensibilisierte meinen Blick. Das ist nicht Genetik, sondern Erfahrung. Außerdem konnte ich, da wir in West-Berlin lebten, das Programm des DDR-Fernsehens sehen, vor allem das Kinderprogramm. Es wurden viele russische Kinderfilme gezeigt. Ich erinnere mich, daß die russische Verfilmung des Märchens "Die Schneekönigin" mich nachhaltig beeindruckte. Jemand, der in Westdeutschland aufwuchs, hat vielleicht einen anderen Bezug dazu. Der Lebensraum West-Berlin ist wohl ein entscheidender Punkt. Der Osten war hier näher. Später gab es am Steinplatz neuere russische Film zu sehen. Das hat mich sehr interessiert. Dort war ich häufig. Mir war das osteuropäische Kino immer sehr nahe, sowohl von der Thematik als auch von der ästhetischen Form her. Warum das so ist, mag an vielem liegen. Das ist eine Denk- oder Empfindungsweise, die mich stärker beeinflußt hat als die des amerikanischen Kinos zum Beispiel. Die war mir fremder.
Der osteuropäische Blick auf die Realität interessiert mich einfach, und er trifft in mir auf Resonanz. Ich bin offen dafür. Er ist mir nah. Es stellt sich eine Kommunikation her. In Osteuropa wird mit dem Leben, das sich Augenblick für Augenblick vollzieht, auch mit Gefühlen, sehr direkt und sinnlich umgegangen. Da liegen die Emotionen zum Teil sehr offen, da wird wenig unter den Tisch gekehrt, auch vor Konflikten gibt es wenig Angst, und sie werden oft deutlich und bis zum Ende ausgekämpft. Das Leben hat eine Temperatur, in der Verzweiflung und Sehnsucht, Melancholie und Euphorie sehr nah liegen, was kein Klischee ist, sondern Wirklichkeit. Es herrscht eine spannungsgeladenere, zum Teil härtere Realität als im Westen, wo sehr viel aufgeweicht wird, wo versucht wird, vieles unter einem Schutzbezug aus Plüsch verschwinden zu lassen. Die Wunden sind offen in Osteuropa. Das Leben hat eine andere existentiellere Form als in Deutschland. Das Denken der Menschen dort wird in seiner Härte, Klarheit und Zärtlichkeit davon bestimmt Hier herrscht dagegen ein starken Drang zur Infantilität, finde ich.

E. R.: Zur Infantilität?
F. K.: Ja, die westliche Gesellschaft neigt zur Infantilisierung von Wirklichkeit.

E. R.: Meinst Du damit das, was man allgemein als "Spaßgesellschaft" bezeichnet?
F. K.: Ich meine die Art und Weise, Überhaupt mit Realität umzugehen. Es gibt ein unheimliches, beängstigendes Bestreben, auszuweichen, zu verschweigen, bunt anzumalen, zu verniedlichen. Aus allem wird letztlich ein Plüschtier gemacht. Es gibt in dieser Gesellschaft einen starken Drang zur Infantilisierung. Das ist auch in Diskussionen bemerkbar. Eine Konfrontation wird nicht wirklich versucht, gar ausgehalten. Wir müssen uns alle verstehen. Bloß nicht streiten und dagegen sein. Konflikte werden gar nicht zugelassen. Sie werden nicht auf die Spitze getrieben, wo sie unter Umständen etwas kreativ erzeugen könnten. Von Anfang an wird versucht, Einvernehmen zu erzeugen. Das ist Feigheit vor der Realität. Dadurch kommt es nicht zu wirklichen Positionen, zu Entladungen, die auch gesund sind. Alles fließt breiig ineinander. Das Leben in Osteuropa ist zum Teil entsetzlich hart und traurig. Aber es gibt eine andere Sichtbarkeit von Realität und Leidenschaft, die uns hier auch angeht, weil sie tief menschlich ist. Es ist selten lau. Es ist heiß oder kalt. Da werden zum Teil Dinge nicht verdeckt, sondern ausgelebt. Und unter Umständen dadurch auch gelöst. Ich denke, daß in den westlichen Gesellschaften im Moment gar nichts gelöst wird, weil der Mut und der Wille zum Konflikt fehlen.

E. R.: Meinst Du, daß die Kunst dafür nötig ist, daß man die Realität schärfer sieht? Daß man tiefer blickt? Oder wie siehst Du Deinen Anteil dabei?
F. K.: Ich denke, daß Kunst notwendig ist, aber wenn man sich ansieht, was kulturpolitisch geschieht, kommt man schnell zu dem Gedanken, daß Kultur in dieser Gesellschaft überflüssig ist. Sie ist maximal dazu da, Unterhaltung zu sein und den Leuten die Zeit zu vertreiben, sie über den Abend zu retten, damit sie gut ins Bett kommen, gut schlafen können und fit sind für den nächsten Arbeitstag.

E. R.: Aber Du machst ja Deine Filme. Denkst Du, mit ihnen einen Schritt oder irgendetwas in Richtung einer Sensibilisierung für die Welt zu tun? Ich empfinde sie so.
F. K.: Das ist eine zweischneidige Sache. Ich definiere mich nicht als jemanden, der etwas tut, um vielen Menschen zu helfen. Sondern ich tue das aus einer inneren Notwendigkeit heraus, ohne wirklich zu begreifen, warum. Obwohl ich natürlich ethische, ästhetische und politische Vorstellungen habe. Doch es geht dabei nicht um mich, sondern um Kunst überhaupt. Ich glaube ganz fest, daß Kunst wichtig ist, daß jede Art von künstlerischer Reflexion über Wirklichkeit wichtig ist. Wenn die Menschen aufhören würden, ihr Leben zu reflektieren und nur noch maschinenhaft, automatisch lebten und Lebenszeit verstreichen ließen, dann wäre das Leben sehr arm, dann wären wir wirklich reduziert darauf, Produzenten und/oder Konsumenten zu sein oder, wenn wir nichts von beidem wären, überflüssig. Wirklichkeit zu reflektieren, ist enorm wichtig. In dieser Form, also Wirklichkeit zu reflektieren und zu vermitteln, kann das vielleicht nur die Kunst, also eine Tür zu öffnen, einen Blick in einen Bereich zu ermöglichen, den man normalerweise vielleicht nicht wagt. Kunst kann sensibilisieren. Kunst, Kultur bildet den geistig-seelischen Anteil am Leben einer Gesellschaft. Sie bezeugt den kreativen Aspekt unseres Seins. Wenn das wegfällt, sind wir auf die reine Physis reduziert, also aufstehen, arbeiten, fressen, ficken, scheißen, sterben. Doch das Leben ist mehr. Kunst ist Denken und Fühlen. Sowohl Chagall als auch Balthus haben gesagt, ihre Kunst sei Gebet. Ja, Kunst kann Gebet sein. Sie kann uns mit etwas in Verbindung setzen, das jenseits unserer materiellen Existenz liegt, sie ist eine Form von Kommunikation und ein Akt der Liebe. Wenn das verschwindet, ist viel vom Mensch-Sein verschwunden. Denn es hat auch etwas mit unserer Würde und unserer Ganzheit zu tun. Der Mensch stammt von einem schöpferischen Wesen ab, mag man sich dieses als göttlich vorstellen oder als "kreativen Affen". Aber das Schöpferische ist dem Menschen eigen. Dazu gehört auch die Destruktion. Der Mensch kann nicht zur Ruhe kommen. Die Geschichte des Menschen ist auch die Geschichte seiner Konflikte und Kriege.

E. R.: Darin liegt eine Art Botschaft.
F. K.: Nein. Mit dem Begriff der "Botschaft" habe ich Schwierigkeiten. Botschaft wäre so etwas Direktes, das man erzählen, transportieren will. Man fragt sich dann, was ist die Botschaft von diesem Film oder jenem? Weiß ich nicht. Es gibt keine Botschaft, sondern nur Versuche, einen bestimmten Weg zusammen mit Menschen zu gehen, sie für eine bestimmte Zeit bestimmte Dinge sehen zu lassen, fühlen zu lassen, denken zu lassen. Danach entläßt man sie wieder, und sie können mit diesen Gedanken weitergehen, diesen Weg weiter beschreiten oder nicht oder sich an einen anderen Gedanken anschließen, ihn mit sich selber weiter bewegen. Es ist nicht die Botschaft, es ist der Weg. Und die Neugier darauf, der Gedanke vielleicht: Schauen wir doch mal, was da ist. Vielleicht kann man, während man diesen Weg geht, bestimmte Gedanken haben. Es gibt keine Botschaft, es ist eine Beschreibung der Wirklichkeit. Der Begriff "Reflexion" wäre sehr passend. Daran kann man Leute teilnehmen lassen. Das ist das Gemeinsame, auch wenn ich nicht mit jedem rede. Es gibt eine Gemeinsamkeit über die Leinwand. Sie stellt eine Kommunikation her. Und wer nicht beteiligt ist oder sich nicht hineinfindet in diese Reflexion, der kann natürlich gehen. Das ist jedem selbst überlassen. Es ist ein Angebot, über etwas nachzudenken, etwas zu fühlen. Die Emotion spielt eine große Rolle. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist natürlich ganz egoistisch, nämlich daß dies meine Art ist, über Leben nachzudenken, daß ich es lieber in einer filmischen Form tue, als es nur in meinem Kopf zu behalten oder aufzuschreiben. Man kann auch anders über Wirklichkeit reflektieren. Man muß ja nicht Filme drehen. Aber für mich ist es eben Film. Es ist mein kreativer Zwang, der mich arbeiten läßt.

Regie und Kamera
E. R.: Du bist Regisseur und Kameramann. Entschuldige, wenn ich ganz profan frage - wie geht das beim Drehen vonstatten? Bei Gängen zum Beispiel, die in Deinen Filmen eine große Rolle spielen, kann ich mir vorstellen, daß Du dem Schauspieler sagst, was er zu tun hat, und daß Du ihn mit der Kamera begleitest. Aber es gibt ja auch große Szenen mit vielen Leuten. Probierst Du das zuerst ohne Kamera? Ich kann mir das nicht vorstellen.
F. K.: Nun, die Schauspieler tun, was sie wollen, und ich tue, was ich will, und wenn wir uns gut verstehen und Glück haben.... Nein, ganz so ist es nicht. Ich habe klare choreografische Vorstellungen von jeder Szene, davon, welcher Schauspieler in welchem Moment sich wo im Raum befindet, wo die Kamera ist, um das aufzunehmen und wie lange es dauert, damit es später in einer bestimmten Weise zu sehen ist. Ich leuchte vorher entsprechend meinen Vorstellungen den Raum ein. Zeit, Raum und Licht sind entscheidende Elemente, die ich sehr genau kontrollieren kann. Der Schauspieler ist als lebender Mensch natürlich das Element der Überraschung, das Lebendige, von dem erzählt wird.

E. R.: Das machst Du selber?
F. K.: In meiner Funktion als Kameramann bespreche ich mit dem Oberbeleuchter zunächst das Licht, die Positionen der Scheinwerfer etc. Dann werden die Lampen gehängt, ich komme zum Korrigieren, messe das Licht durch und beginne mit den Kameraproben, um sicher zu sein, daß meine Vorstellung von der Bewegung realistisch, das heißt umsetzbar ist. Die Positionen der Schauspieler werden dabei von Kollegen aus dem Team gestellt, die die Gänge zur Kameraprobe simulieren, um zu sehen, ob es technisch möglich ist oder ob irgendwo eine Lampe im Bild ist oder ob zum Beispiel der Tisch ein Stück nach rechts muß usw. Wenn ich das getan habe, kommen die Schauspieler, ich erkläre ihnen die Szene, und wir proben sie.

E. R.: Mit oder ohne Kamera?
F. K.: Zunächst ohne Kamera. In diesem Moment ist meine Kameraarbeit erst einmal erledigt. Es ist eingeleuchtet, es ist eingerichtet, ich weiß, daß es technisch geht. Und ich weiß, was ich als Kameramann in der Szene zu tun habe. Ich probe also mit den Schauspielern die Szene, sehe mir erst einmal an, was sie aufgrund dessen, was ich ihnen vorgeschlagen habe, tun. Wenn sich etwas Besseres ergibt, wird geändert. Dann wird die Szene irgendwann fixiert. Die Schauspieler gehen zur Maske, lassen sich schminken, lernen die Texte, die sich bei der Improvisation während der Probe ergeben haben, während ich aufgrund der Veränderungen, die sich unter Umständen ergeben haben, mit den Beleuchtern das Licht umrichte und meine Kamerabewegungen neu probe. Dann kommen die Schauspieler zurück zum Set, und wir proben die Szene gemeinsam, das heißt, diesmal begleite ich die Schauspieler mit der Kamera. Wenn dann der Moment einer gewissen Intensität nahe ist, das heißt einer gewissen Qualität von Schauspiel und Kameraführung, wenn es zu einer Art Verschmelzung kommt, wie bei einem Tanz, bei dem die Partner ein Körper zu werden scheinen, so daß sie fast davon fliegen, wird gedreht.

E. R.: Ich hatte immer das Gefühl, daß die Szenen in Deinen Filmen "an sich", also ohne Kamera, gar nicht vorhanden sind, daß sie durch die Kamera überhaupt erst entstehen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß Du das vorher mit den Schauspielern gewissermaßen "trocken" probierst.
F. K.: Sehr präzise sogar. Wenn ich das Drehbuch schreibe, lasse ich die Figuren sich bewegen, indem ich mir das aufgrund der Situationen, der Charaktere usw. ganz genau vorstelle. Ich sehe gleichzeitig mit meinem inneren Auge sozusagen, wie das die Kamera zeigt. Am Drehort kümmere ich mich zuerst um den visuellen Aspekt, also um Ausstattung, Licht, Kamera, weil ich das schon weiß, und zeige den Schauspielern dann, wie sie sich im Raum bewegen könnten. Wenn sich das ändert, ändere ich auch die Kamerabewegung. Ich passe die Kamera immer an die Bewegungen der Schauspieler an. Beim Schreiben geschieht das gleichzeitig. Auch wenn es eine Szene gibt, wo sich der Schauspieler nicht bewegt, wo er zum Beispiel am Fenster sitzt, sehe ich den Raum, der lang ist und dunkel, im Hintergrund am Fenster sieht man vielleicht Licht von der Straße, ich sehe dann, daß die Kamera diese Szene in der Weise aufnimmt, daß sie tief im Raum beginnt, weit weg vom Fenster, und sich langsam auf das Fenster zu bewegt und am Ende unter Umständen mit einer Nahaufnahme auf dem Gesicht des Schauspielers endet. Das sehe ich zum Beispiel so, und so schreibe ich es dann auf und stelle es erst einmal nicht in Frage. Warum ich es so sehe und warum ich die Kamera nicht gleich nah auf das Gesicht des Schauspielers richte, hat unter Umständen etwas mit der Szene vorher zu tun, oder mit der danach, mit dem Rhythmus etc., oder es ist völlig unerklärbar, Das wird von mir sehr intuitiv entschieden. Über Rhythmus denke ich nicht rational nach. Der Rhythmus ist schon da. Ich brauche lediglich das Gefühl, daß es so richtig ist. Es kann sein, daß sich beim Bearbeiten des Buches, bei Gesprächen mit anderen zu dem Schluß komme, daß es besser ist, wenn die Kamera zum Beispiel nicht tief im Raum beginnt. Dann ändere ich das eben. Beim Schreiben habe ich immer eine sehr starke Vorstellung, wie das Bild aussieht. Weil sich alles, was geschieht, über das Bild vermittelt. Film ist natürlich eine visuelle Sprache. Die Basis ist das Bild. Frühestens an zweiter Stelle folgt der Text. Doch eigentlich erst an dritter, denn der Ton, Geräusche, Klänge sind dem Text unter Umständen vorgeordnet. Das Bild muß sprechen.

E. R.: Heißt das, daß die Montage dem Gedrehten weitgehend folgt, oder siehst Du das gedrehte Material dann noch einmal ganz anders.
F. K.: Ich montiere den Film erst einmal so, wie er geschrieben ist oder wie er beim Drehen gedacht wurde. Das weicht zum Teil von der geschriebenen Fassung stark ab. Ich ändere manchmal sehr viel beim Drehen, so daß ich nach kurzer Zeit unter Umständen das Drehbuch fortlege, neue Szenen schreibe, auch weil manchmal unvorhergesehene Dinge geschehen, wie Drehorte, die wegbrechen etc. Da muß man ziemlich schnell reagieren und bereit sein, Szenen zusammenzufassen, zu streichen, umzustellen, neu zu schreiben. Dadurch entsteht etwas Neues, zwar nicht vom Inhalt, vom Thema her, aber doch von der Form her. Das ist auch gut. Das ist ein Moment von Freiheit.

E. R.: Und es fließen auch von den Schauspielern Vorschläge ein?
F. K.: Ja, in den Gesprächen, die wir lange vor Beginn der Drehzeit haben, und während der Proben. Das hängt natürlich sehr stark von der Kreativität des jeweiligen Schauspielers ab. Aber die erste Fassung des Drehbuches, die ich für vorzeigbar halte, gebe ich den Schauspielern, die ich sehr früh aussuche. Ich rede mit ihnen und höre mir sehr genau an, was sie sagen, welche eigenen Ideen und Erfahrungen sie haben, was sie verändern wollen. Das hat eine Auswirkung auf meine weitere Arbeit am Drehbuch. Es fließt so ineinander. Es ist eine gemeinsame Arbeit. So ist es auch mit dem Schneiden. Ich schneide nicht alleine, sondern gemeinsam mit der sehr guten, mir sehr lieben Cutterin Anja Neraal. Wenn ich es alleine tun würde, wäre die Gefahr zu groß, an einmal gefaßten Vorstellungen festzukleben. Wir montieren zwar erst einmal so, wie es geschrieben oder gedacht war. Doch dann überlegen wir, ob das Material unter Umständen etwas anderes hergeben kann. Ob zum Beispiel eine Szene, die kurz vor dem Ende sitzt, nach vorne kann, oder wie es wäre, mit einer anderen zu beginnen oder überhaupt einiges umzustellen. Dann prüfen wir, ob das etwas Neues, Interessantes ergibt, oder ob es schlechter ist als die ursprüngliche Idee. Da Distanz zu halten, ist schwer. Ich versuche das, was ich einmal wollte, weitgehend zu vergessen. Deswegen ist es wichtig, nicht alleine zu schneiden. Man braucht den anderen Blick. Nach ein paar Schnittfassungen bitte ich auch Menschen meines Vertrauens, sich das unterschiedlich geschnittene Material anzusehen, zu vergleichen, was ursprünglich gedacht war mit, was verändert wurde. Es geht ja auch um die emotionale Kraft des szenischen Flusses. Unter Umständen ist eine Szene an einer bestimmten Stelle emotional wesentlich stärker als da, wo man sie hat. Das hat nichts mit Logik oder Dramaturgie zu tun. Es ist ein Geheimnis. Es ist wie in der Malerei. Ein Rot neben einem Grün sieht anders aus als dasselbe Rot neben einem Gelb. Da muß man genau hineinfühlen und sich entscheiden. Man kann nicht einfach eine andere Geschichte erzählen – gut, das kann man natürlich auch, aber wozu? –, aber man kann sie vielleicht etwas anders erzählen. Man kann vielleicht andere emotionale Kurven finden, einen anderen Rhythmus. Das geschieht beim Schneiden. Allerdings ist der Spielraum durch die langen Einstellungen relativ eingeschränkt. Ich könnte natürlich auch wahllos reinhacken. Dazu hatte ich auch schon Lust. Aber es gab den Punkt noch nicht, an dem ich das für einen Gewinn, eine Verbesserung gehalten hätte. Es gibt Filme, die beim Schneiden ihren Rhythmus finden, und andere finden ihren Rhythmus beim Drehen. Was ich bisher getan habe, fand seinen Rhythmus hauptsächlich beim Drehen, hatte sozusagen einen inneren Schnitt. Wie sich die Kamera bewegt, von einer Totalen bis zu einer Nahen, sich dann wieder öffnet - das sind praktisch innere Schnitte. Man muß beim Drehen in diesem Fall ziemlich sicher sein, daß man das, was man tut, auch will, weil später relativ wenig korrigiert werden kann.

E. R.: Und Du bist meistens von Deinen Bild-Vorstellungen ganz überzeugt?
F. K.: Ja, in dem Moment, wo ich es drehe, bin ich sicher, daß es so sein muß. Es kann aber auch sein, daß mir jemand vorschlägt, es doch anders zu drehen. Und wenn ich überzeugt bin, daß das besser ist, tue ich es auch. Dieser Jemand kann zum Beispiel der Bühnenmann sein.

E. R.: Sagen die das manchmal?
F. K.: Wenn ich sie dazu ermuntere, ja. Bei "Abendland" habe ich mit einem sehr guten Mann aus Portugal gearbeitet, José Gomes. Den habe ich öfter gefragt, nachdem wir eine Einstellung so gedreht hatten, wie sie gedacht war: "Wollen wir das ändern, oder lassen wir das so?" José hatte eine hohe Sensibilität. Er wußte, daß ein Bild spricht. Mit solchen Leuten zu arbeiten, macht Spaß und ist kreativ. In dem Sinne ist wirklich jeder mit dem Kopf dabei. Ich frage auch den Oberbeleuchter, den Tonmann oder den Kameraassistenten, was sie von einer Szene denken, und natürlich die Regieassistenten Es ist nämlich sehr interessant, nicht nur von sich selber auszugehen. Jeder hat eine Realität, ein Leben, eine Biographie und hat Gedanken. Wenn eine Szene vor dem Team nicht besteht, besteht sie auch nicht vor dem Zuschauer. Das sind ja keine Fachidioten, die nur mit ihrem Bereich zu tun haben. Sie empfinden genau, ob eine Szene sie berührt oder nicht, ob sie sie für albern halten oder wichtig.

E. R.: Deine Teams sind wahrscheinlich relativ klein.
F. K.: Bei "Abendland" waren wir in Portugal ein Team von fast 50 Personen inklusive der Schauspieler. Ich frage da natür-lich nicht jeden. Aber ich würde es niemals lassen, verschiedene Leute einzubeziehen. Es ist ein kreativer Prozeß. Ich versuche jeden in seiner Präsenz ernst zu nehmen. Wenn es letztlich nur ein "Abdrehen" ist, bereitet es keine Freude.

E. R.: Hast Du das von Anfang an so gemacht?
F. K.: Ich habe es von Anfang an versucht. Das Problem ist, daß beim Film viele Leute aus hierarchischen Strukturen kommen. Die sind dann überfordert und denken vielleicht: "Warum fragt der mich, was ich von der Szene denke?" Das irritiert. Eingefahrene Hierarchien zu zerbrechen, ist manchmal mühselig. Aber ich will es nicht aufgeben.

E. R.: Gab es während des Studiums Anstöße in diese Richtung?
F. K.: Was diese Arbeitsweise betrifft? Es hängt vielleicht damit zusammen, daß, als ich an der Filmschule anfing, ich die ersten Kurzfilme mit den Leuten innerhalb einer Gruppe drehte. Das heißt, derjenige, der die Kamera für mich führte oder den Ton für mich aufnahm, war der Regisseur des nächsten Kurzfilmes, für den wiederum ich arbeitete. Das schützte schon mal davor, nur zu funktionieren oder im Anderen nur ein funktionierendes Teilchen zu sehen. Vielleicht hatte den Ton gerade der Mann aufgenommen, mit dem ich befreundet war. Den habe ich natürlich auch gefragt, was er von einer Szene denkt. Das ist ja nicht wie bei einem sogenannten "industriellen" Film, wo einem die Leute vorgesetzt werden. Mit jedem einzelnen, der im Team ist, habe ich vorher gesprochen. Ich weiß genau, warum jemand da ist und warum ich ihn will.

E. R.: Kennst Du denn die Leute alle?
F. K.: Manche. Die anderen lerne ich vorher kennen. Ich spreche mit ihnen. Da weiß man schon, ob man jemandem trauen kann oder nicht. Soweit, wie man es muß. Ich finde es wichtig, daß jeder versteht, was er tut, warum er zum Beispiel 12 Scheiß-Stunden im Regen steht. Es ist doch Lebenszeit, die jeder da gibt. Das macht man nicht nur, um Geld zu verdienen. Dazu sind die Filme nicht kommerziell genug. Man kann damit nicht reich werden. Einen gewissen Idealismus muß jeder im Team haben. Das hat etwas damit zu tun, daß man diese Idee, diesen Film will. Gemeinsam. Und daß man sich auch miteinander beschäftigt, miteinander redet, nicht nur funktioniert. Ich hasse es sowieso, Menschen zu funktionalisieren. Dagegen ist ein tiefer Abscheu in mir. So arbeiten zu müssen, mit Fremden letztlich, die nur eine Funktion erfüllen - dafür wären mir meine Arbeitszeit und meine Lebenszeit und auch diese Kunst zu schade.

E. R.: Du hast an der dffb studiert. Was waren da wesentliche Anstöße für Dich? Natürlich konntest du Filme machen. Aber anderes? Filmgeschichte? Leute? Béla Tarr ist natürlich klar.
F. K.: Ich hatte Bélas Film "Verdammnis" in Budapest gesehen. Dieser Film war mir in seinem ganzen Wesen, seinem Denken, der Art, die Kamera zu bewegen, seinem Tempo sehr nahe. Dann traf ich Béla bei einer Retrospektive im "Arsenal", später im Büro der dffb. Da gab er ein dreitägiges Seminar für ältere Semester, an dem ich schließlich nach einigem Ringen mit dem Studienleiter und nach Fürsprache von Béla teilnahm. Es gab eine Nähe zwischen uns. Daraus ist eine nun zwölfjährige Freundschaft entstanden. Ich glaube, für uns beide war damals klar, daß das weiter geht. Ich habe später noch einmal an einem Seminar bei ihm teilnehmen wollen, wo ich allerdings fast nicht anwesend war. Denn ich zeigte in München auf dem Filmfestival meinen mittellangen Film "Kalyi - Zeit der Finsternis" und kam erst wieder, als Bélas Seminar fast vorbei war. Ich wollte nicht drehen, sagte ihm , ich würde keine Filme drehen wollen, das würde mich alles ankotzen. Er sagte: "Dreh." Ich: "Ich will nicht drehen." Er: "Dann dreh für mich." Ich: "Was soll ich drehen? Mir fällt nichts ein." Am letzten Tag seiner Anwesenheit hatte ich dann die Idee für "Verhängnis". Ich sagte zu Béla: "Paß auf, ich hab' eine Idee, willst Du sie wissen?" Er: "Nein, ich muß zum Flugplatz. Das interessiert mich jetzt auch nicht mehr. Aber ich werde dafür sorgen, daß Du drehen kannst." Er ging zum Studienleiter und sagte ihm, daß sein Seminar zwar vorbei wäre, er aber möchte, daß ich noch drehe könnte. Damit hat er mir gezeigt, daß er mir vertraute, wofür ich ihm dankbar war, da das selten und kostbar ist. Er hat so durchgesetzt, daß ich auch nach seiner Abreise noch arbeiten durfte. Normalerweise durfte man, nachdem das Seminar beendet war, nicht mehr drehen. Ganz strikt. Also drehte ich "Verhängnis". Béla hat den Film zum ersten Mal auf dem Filmfestival in Toronto auf der Leinwand gesehen.

E. R.: Abgesehen von Béla Tarr, gab es andere Leute, die für Dich wichtig waren und sind? Ich zum Beispiel liebe über alle Maßen Antonioni, aber der ist Dir vielleicht ganz fremd.
F. K.: Ich bin ihm leider nie begegnet. Aber ich liebe die meisten seiner Filme sehr. Ich mag überhaupt den Neorealismus und auch die spätere Entwicklung seiner einzelnen Vertreter. Antonionis Arbeit ist mir sehr nahe. Ich finde allerdings auch Fellini wichtig. Er hat wunderbare Filmenden gefunden. Viele Regisseure verraten ihren Film durch den Schluß. Die Kraft zu einem starken und guten Ende hat Fellini immer gehabt. Er wußte einfach, wie man einen Film wieder in die Dunkelheit entläßt. Visconti bedeutet mir auch etwas, zum Beispiel liebe ich "Rocco und seine Brüder". Mir bedeuten auch die frühen Bergman-Filme viel oder Rossellinis Filme. Durch die persönliche Begegnung waren für mich Alejandro Jodorowsky, Werner Herzog, Krassimir Kroumov, Otar Iosseliani, Wojciech Marchewski, Andrzej Mellin, und ein paar andere Menschen, nicht nur Regisseure, wichtig. Auch ein damaliger Dozent der dffb, Helmut Ulrich Weiß, war für meine Entwicklung von Bedeutung. Er ließ mir Raum.

E. R.: Wie geht es, wenn Du die Kamera für einen anderen Regisseur machst - was ja schon mehrfach passiert ist?
F. K.: Ich tue es gerne, weil ich sowieso gerne Bilder finde. Schwierigkeiten gibt es dann, wenn ein Regisseur einerseits keine visuelle Vorstellung hat, aber andererseits nicht in der Lage ist, einen Vorschlag anzunehmen. Da entsteht sofort ein Vakuum. Wenn ein Regisseur weiß, was er will, wenn er entweder sehr klare Vorstellungen von Bildern hat, die er mir sagt, so daß ich sie für ihn auch finden kann oder wenn er aus bestimmten Gründen meine visuelle Vorstellung will und zuläßt, was ich anbiete, arbeite ich gerne als Kameramann. Dann breitet es Freude.

E. R.: Mit wem hast Du schon zusammengearbeitet?
F. K.: Das letzte war ein Dokumentarfilm über Tätowierungen - "Tatau Samoa" von Gisa Schleelein, vorletztes Jahr (2000). Mit Béla Tarr habe ich "Journey to the Lowland" gedreht, mit dem argentinischen Regisseur Hector Fáver in Barcelona, und ein paar sehr schöne Kurzfilme an der dffb. Das nächste wird ein Film von Yesim Ustaoglu sein in der Türkei in diesem Jahr. Fast alles nur im Ausland. Wenn ich für andere Regisseure die Kamera führe, führe ich nur die Kamera, ich mische mich nicht in die Schauspielführung ein oder in sonst irgendetwas. Ich äußere mich inhaltlich auch nur insoweit zum Buch, als der Regisseur das möchte. Ich bin dann wirklich nur Kameramann. Das ist sehr erholsam.
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