» Film ist Höhlenmalerei | Mit Fred Kelemen sprach Erika Richter | Juni 2002
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Fortsetzung Text: Film ist Höhlenmalerei

Die Schatten der NS-Zeit
E. R.: Die Ausgrenzung des "Anderen", sei es ein "anderes" Kino, eine andere Kultur, eine andere Denkweise, geht in verschiedenen Varianten durch alle Bereiche unserer Gesellschaft. Ein extremes Beispiel dafür scheint mir die Diskussion über Genmanipulation zu sein oder die Vorstellung, daß man ein Leben ohne Leiden und Krankheit erreichen könnte. (Interessanterweise gab es jetzt eine Ausstellung des Dresdner Hygiene-Museums mit dem Titel "Der unvollkommene Mensch - Vom Recht auf Unperfektheit" ) Das ist für mich Hybris.
F. K.: Ein eklatantes Mißverständnis von Leben, was, glaube ich, auch zu einer Degeneration führt. Zugleich ist es ein tief verwurzeltes Erbe der NS-Ideologie. Die offizielle Haltung oder vielmehr der offizielle Mythos ist der von der sogenannten "Stunde Null", daß der Nationalsozialismus sozusagen aus dem Nichts kam, dann 12 Jahre lang herrschte, im Grunde genommen wie eine Naturkatastrophe, und dann auch wieder vorbei war, wie ein Unwetter, das vorbeizieht. Das ist absurd. Ich glaube nicht, daß es eine "Stunde Null" gab, sondern daß das, was sich 1933 manifestierte und schon vorher begonnen hatte, im Grunde nur der Anfang von etwas war, in dem wir mittendrin sind. Auch die Gen-Manipulation ist ein Nazi-Traum. Die Ausmerzung des Kranken, Mißgebildeten usw. ist ein Nazi-Traum. Auch das Schönheitsideal, das wir heute haben, das Junge, Durchtrainierte, Nicht-Alternde, Widerstandsfähige usw. ist im Grunde ein Schönheitsideal, das die Nazis hatten. Man kann noch weitergehen. Auch der Nazi-Traum vom Wirtschaftsraum im Osten ist verwirklicht. Der Westen hält sich den Osten als einen riesigen Absatzmarkt. Auch Technik und Wissenschaft als allein gültige Autoritäten durchzusetzen, ist gelungen. Und nicht vergessen sollten wir, daß Adolf Hitler, als erster wirklicher Polit-Popstar, vorgemacht hat, wie die Massenmedien ideologisch einzusetzen sind. Im Grunde sind alle Träume der Nazis, die damals technisch und wissenschaftlich noch nicht umsetzbar waren, heute realisiert. Das ist das Erschreckende. Essentielle Ziele der Nazis werden heute verwirklicht, und gleichzeitig wird mit dem Mythos des Bruchs mit der Geschichte, mit dem Mythos der "Stunde Null" diese Spur verwischt. Wobei Geschichte eben nicht aufhört, sondern immer bis heute geht. Auch einige Probleme der deutschen Filmkultur haben natürlich mit dem Erbe der NS-Zeit zu tun.

E. R.: Wieso?
F.K.: Vor 1933 gab es in Deutschland eine Filmkunst. Dann gab es eine völlig einseitige Unterstützung des industriellen Films der UfA durch die Nazis. Nach dem Zusammenbruch 1945 kamen in Westdeutschland die Amerikaner, und es wurde einseitig eigentlich nur noch diese Linie verfolgt. Die Tradition des künstlerischen Films ist im Grunde abgebrochen und kaum wieder aufgenommen worden.

E. R.: Hier muß man zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland unterscheiden. Im Osten verlief die Entwicklung anders. Da gab es nicht diese Übermacht des Kommerziellen, aber die Entwicklung wurde auf andere Weise, durch Ideo-logie und Politik, beeinflußt und partiell verbogen. Aber die Momente der Filmkunst ziehen sich durch die gesamte Geschichte des ostdeutschen Films.
F. K.: Ich denke, daß der deutsche Film immer noch schwer am Erbe der NS-Zeit trägt. Auch die Art, wie mit Film, wie mit Bildern umgegangen wird, zeugt davon. Das hat einfach - das ist selbstverständlich eine Naseweisheit - mit den Leuten zu tun, die weggegangen sind oder umgebracht wurden. Dadurch gibt es keine Tradition, wie es sie zum Beispiel in Frankreich gibt oder in England oder in Rußland. Die deutsche Tradition ist woanders, in Amerika zum Beispiel, fortgesetzt worden, im Film noir usw. Die schwere Last der NS-Zeit zeigt sich auch darin, wie mit Ernsthaftigkeit umgegangen wird, wie verpönt es ist, ernsthaft zu sein. Die Filme der NS-Zeit sollten nur unterhalten, Massen bewegen, ins Kino holen und von der Wirklichkeit ablenken. So ist bis heute jede Art von Anstrengung im Kino verpönt. Es gibt starke Vorbehalte gegen alles, das sich nicht sofort auf einfache Weise erschließt, und es wird dann rasch als elitär oder zu schwierig diffamiert. Es gibt starke Berührungsängste mit vermeintlich Elitärem oder mit Dingen, die angeblich nur für wenige sind. Durch den unglaublichen "Bildermißbrauch", der stattgefunden hat, gibt es zum Beispiel eine extreme Furcht vor Bildern, die Emotionen auslösen. In Deutschland ist man im Kino immer am unangreifbarsten, wenn man möglichst trocken ist und sich filmsprachlich nicht viel auf der Bildebene wagt, sondern versucht, sichtbare Realität möglichst 1 : 1, aber mit einer konsumierbaren, d. h. aus der Werbung oder dem Fernsehen bekannten Ästhetik zu kopieren. Oder es muß komisch sein, also nicht so ernst gemeint. Man ist sofort angreifbar, wenn man mit Bildern, mit Metaphern arbeitet. Dieses Mißtrauen, diese Angst, zu einem Gefühl "verführt" zu werden, ist vielleicht ein Erbe der NS-Zeit.

E. R.: Aber vorher hat es das alles im Expressionismus gegeben.
F. K.: Ja, aber das ist zerschlagen und als Tradition nicht weitergeführt worden. Für mich war zum Beispiel der Expressionis-mus sowohl in der Literatur als auch in der Malerei immer sehr wichtig. Als ich anfing, an der Filmakademie zu studieren, überlegte ich, wo ich ansetzen konnte. Ich konnte nicht ansetzen bei den neuen deutschen Komödien, ich konnte nicht beim Heimatfilm der Fünfziger ansetzen, auch nicht so richtig beim deutschen Autorenfilm.

E. R.: Warum da eigentlich nicht?
F. K.: Weil ich das Gefühl hatte, daß – bis auf ein paar Ausnahmen – der Film von seiner sinnlichen Seite her damals sehr reduziert worden war und einseitig einen intellektuell-analytischen Ansatz hatte. Für das, was ich suchte, war das kein Anknüpfungspunkt.

E. R.: Und Du wußtest von Anfang an relativ genau, was Du willst?
F. K.: Ich fühlte, was ich suchte. Ich hatte eine Ahnung. Und ich wußte, was ich nicht wollte. Ich bin dann automatisch in der Zeit vor 1933 angekommen und dachte, daß ich dort ansetzen kann.

E. R.: Was für Filme waren das zum Beispiel?
F. K.: Das waren Filme wie "M", wie "Das Kabinett des Dr. Caligari", wie "Der Student von Prag" oder "Metropolis", die Filme von Murnau, "Nosferatu", "Faust", "Der letzte Mann", wunderbare Filme, die mit Licht umgegangen sind, die mit Figuren umgegangen sind, auch "Berlin – Alexanderplatz" und andere wunderbare Filme. Da habe ich sehr viel gefunden, was mit dem Lebensgefühl, das ich hatte, zusammenhing. Ich finde, diese Zeit ist unserer Zeit sehr nahe. Ich hatte das Gefühl, daß das ästhetisch und inhaltlich ein Anknüpfungspunkt für jemanden war und ist, der in Deutschland Filme drehen will. Das sind die Dinge, die mich noch immer beschäftigen. Die Zeit vor 1933 ist für mich die wichtigste Phase im deutschen Film.

E. R.: Ist es bestimmt auch. Wobei Du natürlich einen Teil, nämlich das ostdeutsche Kino, überhaupt nicht kennst.
F. K.: Aber das ist ja eh das Problem dieser Wiedervereinigung. Da ist ja wirklich ein ganzes Land kulturell ausgelöscht worden. Das gibt es einfach nicht mehr. Auch die Filmgeschichte, die die DDR hat, ist Überhaupt nicht präsent.

E. R.: Was denkst Du angesichts der niederdrückenden Situation aus?
F. K.: Jeder, der versucht, einen Weg zu gehen, der im Widerspruch zu dem steht, was verlangt, gewollt, unterstützt wird, ist letztlich dazu verdammt zu scheitern. Das ist nur eine Frage von Zeit.

E. R.: Was könnte Dich denn stabilisieren?
F. K.: Es geht gar nicht um mich. Ich glaube zwar, daß man auf diesem Weg noch ein paar Dinge kreieren kann, ein paar Filme, ein paar Inszenierungen, daß man noch etwas schaffen kann, das für bestimmte Menschen einen Wert besitzt. Ich glaube aber nicht, daß es haltbar ist. Ich mache mir da nicht so wahnsinnig viele Illusionen. Dennoch kämpfe ich, bin ich nicht bereit aufzugeben, habe ich einen Glauben an die Richtigkeit dieses Weges als Möglichkeit. Das heißt nicht, daß ich der Meinung bin, daß alle diesen Weg gehen müssen. Aber ich bin von der Berechtigung, diesen Weg zu gehen, überzeugt. Ich werde auch immer daran festhalten. Aber ich sehe, daß dieser Weg letztendlich wohl in eine Sackgasse führt. Nicht weil der Weg selber falsch ist, sondern weil die gesellschaftlichen Bedingungen – ich weiß nicht mal, ob es die Gesellschaft ist, es ist unheimlich schwer, das zu benennen – es nicht zulassen. Man kann sich damit nicht durchsetzen. Es wird immer marginal bleiben, obwohl ich nicht glaube, daß es marginal ist. Ich denke, daß diese Forderung nicht marginal ist. Ich denke, daß diese Haltung nicht marginal ist. Ich denke, daß die Themen keine marginalen Themen sind. Aber sie werden dazu gemacht und werden ins Abseits gedrängt, weil offensichtlich andere Interessen herrschen. In einer materialistischen Welt zählen einfach materialistische Erfolge und Dinge. In einer Welt, in der jeder seine Haut retten will, ist es unheimlich schwer, durchzukommen mit dem Anspruch, die Seele retten zu wollen. Von da her denke ich, daß man diesen Kampf nicht gewinnen kann. Auf Dauer. Aber man kann bis zu dem Punkt, wo man endgültig erledigt ist, noch etwas schaffen. Es ist nicht in Ordnung, daß das keine Chance hat. Aber es wäre auch nicht in Ordnung aufzugeben.

E. R.: Das klingt düster und hoffnungslos.
F. K.: Wenn es sein muß, kann man das Ganze auch unter einem positiven Aspekt sehen, nämlich, daß es natürlich lohnt, für etwas "anderes" zu kämpfen, eine Vision zu vertreten und daran zu glauben. Ich bin auch ziemlich sicher, daß es Leute gibt, die sich dieser Vision anschließen können, die eine Vorstellung haben, welche – sagen wir mal – abweicht von der herkömmlichen Auffassung, und mit denen man sich auf eine gewisse Weise verbünden kann. Und wenn das Gemeinsame nur das Individuelle ist oder die Verweigerung einer bestimmten Manipulierung. Ich finde wichtig, daß viele Leute auf ihre Weise diese Kunst ausüben. Es ist nicht die Frage, wie das aussieht, gibt es ein "Happy End" oder kein "Happy End", dauert der Film eine Minute oder dauert er 10 Stunden, das alles ist scheiß egal, wichtig ist nur, ob er jemanden erreicht. Es ist auch nicht wichtig, daß er Millionen erreicht, sondern daß er überhaupt jemanden erreicht. Das muß möglich sein. Ich wünsche mir einfach ein viel offeneres Umgehen damit. Wenn das gegeben wäre, wäre erst einmal alles heiterer, spannender, interessanter, sinnlicher, und es würde viel mehr Spaß machen, sich miteinander zu beschäftigen. Alles wäre weniger vergiftet. An diesen Gedanken festzuhalten ist auch etwas sehr Vitales. Zu sagen, es macht Spaß....

E. R.:...dagegen zu halten.
F. K.: Nein, an etwas festzuhalten. Ich ziehe meine Kraft nicht aus einer Anti-Haltung, sondern aus einer Haltung für etwas. Daß das unter Umständen im Widerspruch steht zu etwas anderem, ist sozusagen ein Nebeneffekt. Aber meine Triebfeder ist nicht eine Antihaltung, sondern ein Glaube an etwas. Darin liegt auch eine Schönheit. Ich weiß, daß es Verbündete auf dem Weg gibt, zumindest, wenn ich international denke.
Abschließend würde ich sagen, daß es immer besser ist, an etwas zu glauben und dafür einzustehen, als aufzugeben. Es ist halt unglaublich schwer. Zu dem Ringen, das man mit sich selbst hat, wenn man einen bestimmten Weg geht, kommt der Widerstand von außen dazu. Klar kommt man dann immer wieder an Punkte, wo man denkt: "Was soll die ganze Sache, lohnt es sich überhaupt, wofür opfere ich mein Leben usw." Wenn man das Ganze als Reise betrachtet, gehören die Schwierigkeiten der Reise dazu. Das, was man auf diesem Weg erleidet, hat einen Wert, befruchtet letztlich die Arbeit. Auch wenn es einen manchmal völlig zu vernichten droht oder man zumindest das Gefühl hat, es vernichtet einen, so daß man aufgeben möchte.
Wichtig ist das Motiv. Mit welchem Ziel man sich einer Sache nähert, aus welchem Motiv heraus, entscheidet letztlich, wie eine Sache dann wird. Ich brauche auch Geld, um zu leben, ich möchte meine Miete bezahlen können, möchte zwischendurch reisen, mich entspannen, möchte essen können, klar. Aber ich habe nie das Ziel gehabt, reich zu sein, und ich wollte nie mehr Geld haben als ich brauche. Deshalb war mein Motiv, Filme zu drehen, nie der Gedanke, reich zu werden. Ich glaube, man kann mit anderen Sachen reicher werden. Ich habe mir auch nie Gedanken darüber gemacht, warum ich eigentlich Filme drehe. Seltsam. Ich weiß es eigentlich nicht.

E. R.: Aber früher hast Du doch gemalt. Hast Du nie darüber nachgedacht, daß Du jetzt nicht mehr malst, sondern filmst?
F. K.: Ich habe ja nie rational entschieden, daß ich aufhörte zu malen und Filme drehe. Ich bin einfach dem stärksten Impuls gefolgt. Das habe ich oft in meinem Leben getan, ohne genau zu wissen, was es letztlich bringen würde. Ich habe dann einfach das Gefühl, daß eine Art Richtigkeit darin liegt. Wenn eine Sache stark ist oder einen anzieht oder wenn man sich dagegen nicht wehren kann, dann hat das auch einen Sinn. Das Leben ist klüger als man selbst. Man kann ein sehr schlechtes und ungesundes Leben führen, man kann Dinge tun, über die andere denken, das sei sehr unklug. Aber man tut es, weil man das Gefühl hat, es ist richtig oder weil man nicht anders kann. Es ist bestimmt nicht vernünftig, Filme zu drehen. Film macht nur Sinn für Leute, die von Anfang an beschließen, einem bestimmten Markt zu dienen. Die können dann wirklich damit Geld verdienen. Jeder, der einen anderen Ansatz hat, ist dazu verdammt, sich permanent in der Gefahr des Scheiterns zu bewegen und müßte sich erst einmal fragen, ob er die Leidensfähigkeit besitzt, das durchzuhalten. Wenn einer etwas anderes will als das Gängige, muß er extrem leidensfähig sein und einen sehr starken Glauben haben.

E. R.: Bist Du nicht manchmal für Sekunden auch ein bißchen glücklich, einen Film wie "Frost" gemacht zu haben oder "Abendland" oder "Verhängnis"?
F. K.: Darüber, sie gedreht zu haben, nein. Aber beim Drehen ja. Wenn ich nicht ein Glücksempfinden beim Arbeiten hätte, würde ich es ja gar nicht tun. Ich liebe es, mit Menschen zu arbeiten, mit Schauspielern zu arbeiten. Normalerweise freue ich mich jeden Tag im Theater auf die Proben, beim Film jeden Tag aufs Drehen. Ich mag beim Drehen dieses Laufen auf dem Drahtseil. Da kann man wirklich siegen oder untergehen. Schneiden ist für mich viel trauriger, weil da alles vorbei ist. Da hat man Zeit, sitzt da, kann sein Material sehen, dann schneidet man es auf die eine Weise, dann wieder auf die andere. Das ist ein relativ sicherer Bereich. Man riskierst nicht viel. Man kann auch viel korrigieren, was man beim Drehen nicht kann. Da geht es einfach um diesen Moment. Diese Hochspannung mag ich. Ich mag auch an Theaterproben, das dort jeden Tag mit den Menschen etwas kreiert wird. Solange es im Entstehen ist, liebe ich das sehr. Ich liebe einen Film vor allem beim Drehen. Wenn er fertig ist, gehört er mir nicht mehr, sondern den Leuten, die ihn sehen. Das Drehen ist schön, weil sich da alles entscheidet, weil nichts sicher ist, weil man auch richtig daneben langen kann.
Unser Leben ist zu kurz, zu flüchtig und zu kostbar, um verbissen zu sein, aber auch um es zu verspielen. Der Mensch ist eine zitternde Hieroglyphe im All.
Ich denke, die kinematographische Sehnsucht ist die tiefe, verzweifelte Sehnsucht, das Leben in seinen Augenblicken festzuhalten, für einen Moment den Zauber seines Geheimnisses, der in seiner Flüchtigkeit liegt, mit anderen zu teilen. Selten, sehr selten gelingt das.

Noch einmal: Theater und Film
E. R.: Inzwischen hat "Fahrenheit 451" eine dichte, konzentrierte, beklemmend eindrucksvolle Premiere gehabt. Hat sich durch diese Produktion Deine Meinung über das kreativere Arbeiten am Theater bestätigt oder mußt Du sie korrigieren?
F. K.: Ich sehe es eigentlich immer noch so. Es ist ein direkter, zum Teil kreativerer Prozeß als beim Film. Das hängt zusammen mit der sehr intensiven Probenarbeit, der Arbeit mit den Schauspielern, die man so stark beim Film nur haben kann, wenn man sie einfordert und verteidigt. Und das mag auch damit zusammen hängen, daß es einen Termin für die Premiere gibt, die dann auch stattfindet, und zwar direkt im Anschluß an die Probenarbeit, die ich am ehesten mit der Drehphase beim Film vergleichen würde, obwohl beim Drehen jeden Tag mit jeder Szene, die gedreht wird, eigentlich eine Premiere stattfindet. Doch beim Film weiß man nie, wann und ob ein Film jemals von jemandem gesehen wird, außer von denen, die an der Arbeit beteiligt waren.
Doch ich würde Film und Theater nicht gegeneinander ausspielen wollen. Beide haben Vor- und Nachteile. Am Theater gibt es Dinge, die ich sehr mag, und Dinge, die ich weniger mag, und das ist auch beim Film so. Es sind zwei verschiedene Künste, die zwar vieles gemeinsam haben, aber vieles ist auch ganz unterschiedlich. Beides sind natürlich darstellende Künste, beide sind performativ, fordern aber jeweils ganz andere Übersetzungen. Die Bühne fordert eine andere Übersetzung als die Arbeit für die Kamera. Damit muß sehr bewußt umgegangen werden. Die Präsenz auf der Bühne fordert vom Schauspieler etwas ganz anderes als die Präsenz auf der Leinwand. Ohne es zu werten - im großen Theater ist zum Beispiel kaum eine Möglichkeit gegeben, über Blicke zu arbeiten. Diese Art von subtiler Sprache über Blicke oder Gesten ist sehr, sehr schwierig. Eine Geste muß schon eine gewisse Größe haben, damit sie überhaupt ankommt und nicht zu einem privaten Zucken verkommt, das niemand wahrnimmt. Das erfordert eine größere, vielleicht auch gröbere Form von gestischer Sprache als im Film. Der Film kann sich aufgrund der Nähe, die die Kamera zum Schauspieler hat, eine feinere gestische Sprache leisten. Das gilt auch für den Einsatz der Stimme. Das Theater fordert insgesamt, daß ein anderer Druck in allem liegt.

E. R.: Diese Unterschiedlichkeit hast Du benützt. Der relativ große Filmteil ist auf vielschichtige Weise mit dem szenischen Teil verbunden. Anders als in "Desire", beobachten sich die Protagonisten aus Film und Szenen auch gegenseitig, gehen aufeinander ein, woraus ein merkwürdiges Zwischenreich entsteht.
F. K.: Die Leinwand erfüllt bei "Fahrenheit 451" eine andere Aufgabe als bei "Desire". Ich habe versucht, eine Verunsicherung herzustellen in Bezug auf das, was in dem Stück die Welt der Leinwand ist. Ob die Leinwand die Gedanken der Hauptfigur zeigt oder ihren Traum oder ob nicht die wirklichere Wirklichkeit auf der Leinwand stattfindet und die erdachte auf der Bühne, das habe ich bewußt nicht durch eine unveränderte Eindeutigkeit eingeschränkt. Das verschiebt sich während des Ablaufs, bis zu dem Moment, da es am Ende ineinander läuft, wo man es kaum noch unterscheiden kann und die männliche Hauptfigur sogar gewissermaßen die Welt der Leinwand – nicht die Leinwand, sondern ihre Welt – betritt, indem er den Figuren, die bis dahin nur auf der Leinwand zu sehen waren, auf der Bühne begegnet, nachdem das komplette Bühnenbild, also ihre bisher bekannte Welt, versunken ist. Da findet eine Art Grenzüberschreitung statt. Das, was vorher auf der Leinwand "real" war, bekommt eine Realität auf der Bühne, und was auf der Bühne real war, versinkt in der Tiefe unterhalb der Bühne, gerät ins Verschwinden, existiert nicht mehr. Ich habe mit diesen Ebenen von Wirklichkeit gespielt, weil es ja nicht nur die Wirklichkeit gibt, die greifbar vor uns liegt, sondern auch die, die in uns stattfindet. Und ein Gedanke, ein Traum, eine Sehnsucht sind natürlich genauso wirklich wie ein Glas Wasser, das auf dem Tisch vor mir steht. Wahrscheinlich sogar wirklicher.

E. R.: Aber es gibt auch noch eine andere Ebene. Melanie schaut immer zu, wenn Gregor Montag und Clara einander auf der Leinwand begegnen. Das hat man das Empfinden, als ob jeder jeden ständig beobachtet. Der "Überwachungsstaat" ist präsent.
F. K.: Ja, auch das. Aber es bedeutet auch, daß die Wirklichkeit, die auf der Leinwand stattfindet, die unter Umständen auch eine Sehnsucht ist, gleichzeitig wiederum Teil einer Inszenierung ist, Teil eines Spiels, einer Fernseh-Serie, eines Filmes, oder sonst etwas, d.h. es ist alles auch erlebbar als Teil eines Spiels, das von jemandem gespielt oder inszeniert wird, von einem anderen oder von einem selber. Die Personen sind nie eindeutig einer bestimmten Wirklichkeit zuzuordnen. Es könnte durchaus sein, daß die Ebene, die wir für die Wirklichkeit halten, auch nur wieder Simulation ist und Teil eines Spiels.

E. R.: Dieses Empfinden stellt sich ein, wenn Melanie Teile der Texte, die zwischen Gregor Montag und Clara gesprochen werden, mitspricht. Das hat mich zunächst etwas verstört, weil ich diese Begegnungen als etwas Echtes angesehen habe, das durch Melanies Mitsprechen der Texte auch zu einer Art von Simulation gemacht wird.
F. K.: Klar. Wir denken alle, daß wir in unserem Leben so unglaublich originell sind. Die Muster, die wir in der Realität zum Beispiel in Begegnungen mit anderen Menschen erfahren, halten wir für sehr individuell. Aber die haben sich schon tausendmal ereignet und werden sich tausendmal ereignen und sind in keiner Weise individuell. Unter Umständen ist jede Art von Liebesgeschichte schon einmal geschehen. Das, was ich in meinem Leben als etwas ganz Persönliches, Individuelles erfahre, kann von jemandem, der von außen darauf schaut, durchaus als etwas erlebt werden, was er schon hundertmal gesehen hat. Möglicherweise weiß er schon, wie es ausgehen wird, daß die ganze Sache scheitern wird, wovon ich selber noch gar nichts ahne. Das ist eben dieses Spiel. Und insofern kann es jemanden geben, der die Worte, bevor sie gesprochen werden, schon kennt.

Es ist ja überhaupt ein Problem, in der Liebe, in Beziehungen zwischen Menschen, in Liebesbeziehungen eine Sprache zu finden, die Gefühle ausdrückt, die so individuell ist wie die Gefühle, die man hat. Das ist eigentlich unmöglich, weil jede Art von Sprache dafür schon gefunden wurde, jeder Satz von einem anderen schon gesprochen wurde. In dem Moment, da man darüber redet, kann es nur noch Wiederholung sein und wird dadurch allgemein und flach. Es kommt eine gewisse Falschheit hinein, wodurch gerade in diesem Bereich, im Bereich menschlicher Gefühle, der Sprache so schwer zu vertrauen ist. Die Sprache darüber gehört uns nicht in dem Maß, in dem uns das Gefühl, die Empfindung gehört. Wir können, glaube ich, gar nicht von Gefühlen sprechen, ohne über sie zu sprechen, ohne vorgefertigte Muster zu benutzen. Das ist ja das Elende daran. Das macht es dann so fad und schwierig und mißverständlich oft und auch leer. Auch wenn das Gefühl selbst ganz ehrlich und klar empfunden ist, ist der Versuch, davon zu sprechen, schon nicht mehr individuell, kann schon nicht mehr zu einer individuellen Äußerung führen, sondern wird irgendwie auch zu einer Lüge, zu etwas, dem man mißtraut.
Und dieser Effekt stellt sich auch in meiner Inszenierung von "Fahrenheit 451" ein. Man sieht dort auf der Leinwand eine Begegnung zweier Menschen....

E. R.: …die etwas ganz Echtes hat, empfinde ich,
F. K.: …etwas ganz Echtes, die als etwas Einmaliges, Besonderes, Individuelles dargestellt wird, und dann sitzt vor der Leinwand jemand, der, bevor ein Satz auf der Leinwand ausgesprochen wird, diesen Satz schon weiß und ausspricht. Damit wird das Gesagte natürlich unendlich profan. An der Sprache ist zu zweifeln, an der Sprache kann verzweifelt werden.

E. R.: Aber trotzdem bleibt der Eindruck, den die Augen und das Gesicht der Darsteller machen, ihre Freude aneinander.
F. K.: Natürlich. Aber hier geht es ja um Sprache. Melanie macht ja nicht die Gesten vor, sondern sie spricht die Sätze vor, die dann tatsächlich auf der Leinwand fallen.
Damit wird auch das, was im Stück als etwas Besonderes erzählt wird, im Stück selber wieder unterlaufen und zerstört. Es gibt eben dieses verzweifelte Ringen um eine Sprache, die uns ausdrücken könnte, die uns helfen könnte, etwas aus unserem Innern zu kommunizieren, für einen Moment die Tür zu öffnen, die uns wie in einem Kerker vor dem Anderen verschließt, und dann sind die gefundenen Worte doch wieder nur fahl, denn sie gehören uns nicht.

E. R.: Aber das Bemerkenswerte besteht für mich darin, daß, obwohl ständig alles gebrochen wird, ich trotzdem emotional stark beeindruckt werde.
Die Mischung von Leinwand und Theater ist ein interessanter Weg.
F. K.: Diese letzte lange Arbeit am Theater hat meinen Blick auf die Leinwand etwas verändert, wie ich bemerkte. Nach vier, fünf Monaten war ich gestern endlich wieder einmal im Kino. Ich sah "Es wird einen neuen Sommer geben" von Zoltan Fabri. Ich halte ihn nicht für seinen stärkster Film, aber das Interessante war, daß ich plötzlich da saß, zwischendurch immer wieder gedanklich aus dem Film ausstieg, mir dieses Viereck ansah, das da auf die Wand geworfen wurde, und das Gefühl hatte, daß die Projektion eines Filmes auf eine Wand auch etwas sehr Totes ist im Vergleich zum Theater. Während man im Theater lebendige Menschen sieht, sieht man da eine tote Sache. Natürlich ist Film, ist dieses Viereck auch etwas sehr Magisches, aber auch etwas sehr Technisches, sehr Totes, sehr Kaltes. Ich sehe eine Rechteck, das auf eine Wand projiziert wird. Nichts davon ist wahr. Du sagtest, daß man die Geschichte, die in "Fahrenheit 451" auf der Leinwand stattfindet, als etwas Wirkliches empfindet. Was soll daran wirklich sein? Das ist ein Film. Die Menschen, die man sieht, sind nicht da. Da kann nichts wirklich daran sein. Und die Menschen auf der Bühne sind Schauspieler, was auch jeder weiß. Daran, an den Figuren, kann auch nichts wirklich sein. Das Interessante war für mich gerade bei dieser Inszenierung, mit diesen Wirklichkeitsebenen zu spielen, zu arbeiten, und gleichzeitig immer zu wissen, daß beides nicht wirklich ist.

E. R.: Natürlich, aber das ist die Verabredung bei Theater und Film.
F. K.: Sicher. Aber eben deshalb ist die Diskussion über Wirklichkeit in diesem Fall sinnlos. Es ist ein Spiel. Wenn man beide Künste einander gegenüberstellt und für beide eine andere Wirklichkeit behauptet, gibt es immer den Punkt, wo man sagt, das eine ist wirklicher als das andere. Aber wenn man darüber nachdenkt, ist beides nicht wirklich, ist beides nicht wahr, also in dem Sinne von Wirklichkeit nicht wahr. Trotzdem glaubt man plötzlich einer Ebene mehr als der anderen und versucht, eine Zuordnung herzustellen. Ich hatte Gespräche mit Leuten, die fragten: Ist das, was auf der Leinwand stattfindet, der Traum der Hauptfigur? Ist das, was auf der Bühne stattfindet, die Wirklichkeit, in Bezug zu der dann das, was auf der Leinwand passiert, der Traum wäre? Das Geschehen auf der Bühne ist auch nicht die Wirklichkeit, ist auch ein Spiel. Diese Fragen, die dadurch aufgeworfen werden, welches Spiel ist denn das wirklichere Spiel, sind, finde ich, ziemlich interessant, denn unter Umständen ist es in unserem Leben nicht anders.

E. R.: Aber das Wesentliche ist doch, daß beides gut ineinander geht, daß beides intensiv ist, sich ergänzt und sich gegenseitig infrage stellt und daß sich insgesamt daraus - so bedingt es auch immer ist - ein sehr genaues Bild von dem ergibt, wie wir leben, wie wir empfinden und wonach wir uns sehnen. Gerade die Mischung ergibt das genaue Bild.
F. K.: Sicher. Das zeigt aber nur, daß die simple Zuordnung von Wirklichkeit und Traum oder Gedanke nicht funktioniert. Und es funktioniert im Leben eben auch nicht. Das, was wir im Leben so dualistisch als Wirklichkeit und Traum bezeichnen oder Wirklichkeit und Phantasie, ist natürlich eine Konstruktion. Es stellt sich die Frage: Ist unsere Wirklichkeit so wirklich? Ist sie nicht auch wieder nur ein Traum? Nur Phantasie? Und wo ist dann die wirkliche Wirklichkeit? Das ist eine ziemlich interessante Gedankenkette, der man da folgen könnte.

E. R.: Aber trotzdem hat Dein Eindruck gestern im Kino ganz bestimmt auch mit der Qualität des Films zu tun.
F. K.: Nein. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, daß ich mich einfach drei Monate lang nur mit lebendigen Schauspielern beschäftigt habe. Das ist auch nichts Neues. Wenn man einen Film anschaut, ist das eigentlich ähnlich wie der Blick in den nächtlichen Himmel, ins All. Von dem Stern, den man am Himmel sieht, weiß man nie, ob er nicht vielleicht schon explodiert, verloschen ist. Der Blick in den nächtlichen Himmel ist ein Blick in die Vergangenheit. Wir sehen nicht, wie es dort aussieht, sondern wie es dort aussah. Der Mensch, den man auf der Leinwand sieht, ist unter Umständen schon tot, alles, was dort stattfindet, ist schon geschehen. Das heißt, der Blick auf die Leinwand ist immer ein Blick in die Vergangenheit, und dadurch ein melancholischer Blick und letztlich etwas sehr Morbides. Film ist einerseits eine konservierende Kunst und andererseits eben unglaublich flüchtig. Es nichts Gegenwärtiges ist, sondern immer der Blick in etwas, das schon vergangen, schon verschwunden ist, d.h. der Blick auf die Leinwand ist immer der Blick ins Verschwinden hinein. Und gleichzeitig eignet ihm durch das Element der Bewegung etwas so Augenblickliches und durch den Blick der Kamera so Authentisches, als wäre es das gerade geschehende Leben selbst. Das ist eben das Interessante, daß unser Blick auf die Leinwand einerseits immer der Blick in die Vergangenheit ist, also der Blick in etwas schon nicht mehr Existentes, und daß dennoch die Kraft des Augenblicks in keiner anderen Kunst wohl so enorm ist wie im Kino. Es gibt zwar den Augenblick im Theater, und zwar immer wieder, jeden Abend millionenmal, aber die Magie des Moments, die Magie eines Blicks, die Magie einer Geste, die Magie des Lebens in seiner feinsten Spur, die ist nur im Kino so stark, und diese Verbindung der Kraft des Augenblicks mit dem schon Vergangenen ist für mich ein wichtiges Element im Kino. Diese Kunst, die eigentlich so etwas wie eine Tür in die Vergangenheit ist, und trotzdem diese Magie des Augenblicks besitzt, finde ich sehr spannend. Wenn ich nur an den Schluß von "La strada" denke, wie dort Zampano am nächtlichen Meer sitzt, in den Himmel sieht und sich dann leicht in Richtung des Zuschauers wendet, ohne direkt in die Kamera zu sehen und mit dieser Geste, dieser Haltung, diesem Blick nicht mehr nur das Individuum Zampano ist, sondern zur menschlichen Kreatur schlechthin wird, einsam in einem endlosen Universum verlassen von jedem Wesen oder Gott, diese zitternde Hieroglyphe im All, von der ich vorher sprach. Das ist einfach großartig. In diesem Moment fällt kein einziges Wort, in diesem Schluß liegt alles, öffnet sich alles und wird tief und weit. Und es ist schon lange her, daß das gedreht wurde. Das ist die Magie des Kinos. Dagegen geschieht das, was auf der Bühne stattfindet, tatsächlich in dem Augenblick da ich es sehe, also jetzt, und obwohl es lebendig ist, greifbar, ist es gleichzeitig viel flüchtiger, da es in dem Moment, da es passiert, auch schon verschwindet. Wenn ein Stück abgespielt ist, ist es nicht mehr da, es entsteht jeden Abend neu, und dafür muß es nur in den Köpfen derer existieren, die es jeden Abend aus dem Nichts erstehen lassen. Das ist auch etwas sehr Faszinierendes, sich klar vor Augen zu stellen, daß die Inszenierung eigentlich nicht existiert; außer im dem Moment da sie sich vollzieht. Auch das ist natürlich dem Leben gleich. Wenn man diese beiden Künste betrachtet, finde ich einen ziemlich interessanten Punkt, daß sie das Leben aus zwei Blicken betrachten, die einander selbstverständlich nicht widersprechen. Der Film ist vielleicht ein melancholischerer Blick in das Leben, da er mit dem Aspekt des Vergangenen, des Vergänglichen umgeht, während das Theater ein vitalerer ist, der sich auf den Aspekt des Augenblicklichen richtet. Beide erfassen natürlich dasselbe: das Leben in seinem andauernden augenblicklichen Vergehen. Der Einsatz von Film und Bühnengeschehen stiftet immer die Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigem.

E. R.: Hat das Konsequenzen für Dich?
F. K.: Natürlich hat das für mich in dem Moment Konsequenzen, wo ich mit beiden gleichzeitig arbeite, wo ich beide auf der Bühne zusammenbringe, d.h. wo es die Leinwand gibt, die Filmbilder, die das Konservierte und gleichzeitig Verschwundene sind, der morbide Blick, der Blick in die Vergangenheit hinein, und gleichzeitig das, was auf der Bühne geschieht und augenblicklich vergeht. Da gibt es natürlich eine Konfrontation, da gibt es eine sehr interessante Spannung zwischen bei-den Ebenen. Da geht es gar nicht nur um den Schauspieler, der auf der Bühne und unter Umständen gleichzeitig auf der Leinwand agiert. Diese beiden Künste haben einfach grundsätzlich verschiedene Qualitäten. Es treffen sich da auch das Vergangene und das Gegenwärtige. Natürlich bleibt das, was auf der Leinwand geschieht, immer gleich, es ist der gleiche Rhythmus, die gleiche Art des Schauspielers, es zu spielen. Der mechanische Vorgang wird stark spürbar, besonders für den Schauspieler, der allabendlich damit konfrontiert ist. Das stellte für einige Schauspieler auch eine Schwierigkeit dar. Sie fühlten sich am Anfang durch die Maschinerie des Ganzen wie in en Korsett gezwängt.

E. R.: Das, was auf der Bühne gespielt wird, wird sich aber mit der Zeit ein bißchen verändern. Da kann sich diese Spannung möglicherweise auch verschieben.
F. K.: Sicher. Was sich nicht verändern kann, sind die Momente, die Bezug zur Leinwand haben. Das, was auf der Leinwand passiert, sowohl das, was geschieht als auch der zeitliche Ablauf, ist ja festgelegt. In dieses Korsett ist der Schauspieler dann natürlich auch geschnürt.

E. R.: Das klingt so, als ob Du von dieser Möglichkeit doch sehr angeregt bist. Willst Du das fortführen?
F. K.: Ich glaube, man kann das wesentlich weitertreiben. Ich habe da auch Phantasien, die weitergehen, wie man noch freier damit umgehen kann und viel komplexer. Ich habe das jetzt in einer anderen Richtung als in "Desire" ausprobiert. Wiederholen möchte ich es nicht. Wenn man es noch einmal tut, muß man wirklich einen Schritt weitergehen. Es ist getan, und es funktioniert. Funktionieren heißt, es kommuniziert, es entsteht etwas, das meiner Meinung nach eine Kraft und eine Qualität hat, die nicht Film allein ist und nicht Theater allein, sondern etwas Drittes, das durch die Konfrontation beider Künste miteinander entsteht, das weder ausschließlich als Film möglich wäre, noch ausschließlich als Theater.

E. R.: Auffällig war, vor allem, wenn ich es mit Deinen Filmen vergleiche, daß in dieser Inszenierung die Musik eine große Rolle spielt. In Deinen Filmen gehst Du sehr sparsam mit Musik um, bist ganz puristisch. Hat dieser andere Gebrauch der Musik etwas mit dem Theater zu tun oder denkst Du jetzt anders über Musik?
F. K.: Nein. Ich würde auch in meinem nächsten Film Musik nur sehr sparsam einsetzen, wahrscheinlich nur an Stellen, an denen sie aus realen Quellen kommt. Aber bei der Inszenierung habe ich natürlich auch mit bestimmten Formen des Kinos gespielt. Dazu gehört zum Beispiel auch der Einsatz einer sehr besonderen Art Filmmusik, die von meinem langjährigen Freund Paul Browse und Nirto Karsten Fischer, die gemeinsam "Visions of Excess" bilden, dafür geschaffen wurde. Und da so etwas wie Filmmusik im Theater nicht existiert, war es interessant, den Film, gerade als etwas dem Theater Gegenüber-gestelltes, mit einer Filmmusik zu versehen, um ihn, sagen wir, noch "kinohafter" zu machen. Auf der Bühne benütze ich nur Musik, die aus realen Quellen kommt, also so, wie ich es auch in meinen Filmen hauptsächlich tue. Aber wenn ich dem Bühnengeschehen die Leinwand auch als Projektionsfläche, als Ort der Sehnsucht gegenüberstelle, gehört die Musik dazu, weil die Musik die Leinwand als Ort der Sehnsucht sehr stark betont.

E. R.: Und Deine Filme sind keine Orte der Sehnsucht, sondern…
F. K.: …Orte der Realität…

E. R.: …ja, der Realität und der Katastrophe oder der Gefährdung…
F. K.: …einfach der Wirklichkeit. Wenn in einem Film jemand in einem Kino sitzen und einen Film ansehen würde, würde ich diesen Film, den er anschaut, wahrscheinlich mit Filmmusik laufen lassen, weil es dann eben die andere Wirklichkeit wäre. In der Realität kommt ja nicht plötzlich von irgendwoher, aus dem Himmel, aus dem Nichts Musik. Immer, wenn Musik zu hören ist, gibt es eine reale Quelle, entweder Live-Musik, oder sie kommt aus einem Lautsprecher oder aus einem Kopfhörer etc. Es gibt in der Wirklichkeit keine Möglichkeit, Musik zu hören, die nicht eine reale Quelle hat. Gut, es mag innere Stimmen geben, aber die sind von außen für andere nicht hörbar, die gehören ganz dem Verborgenen an. Deswegen also würde ich Filmmusik nicht benutzen. Das ist einfach Quatsch, daß plötzlich aus dem Nichts, wie in manchen Filmen, Musik auftaucht.
Mit Musik Emotionen zu erzeugen, ist sehr leicht. Das ist ein billiges Mittel. Ich finde es wichtiger, Emotionalität über die Schauspieler und über die visuelle Ebene zu erreichen. Wenn das erreicht ist, ist jede Musik destruktiv. Wenn man sie braucht, ist sie falsch, und wenn man sie nicht braucht, wäre es auch falsch, sie einzusetzen. So oder so wäre es falsch.

E. R.: Ist mir total nachvollziehbar. Aber in der Inszenierung war sie ausgezeichnet.
F. K.: In dem Moment, wo es eine Bühne gibt, auf der eine Leinwand gespannt ist und ein Film läuft, ist das schon nicht mehr die Wirklichkeit, die man mit dem Schauspieler teilt. Das, was man mit dem Schauspieler teilt, ist die Bühnenwirklichkeit, weil in dem Moment, wo er dort steht und atmet, ich auch da sitze und auch atme. Das heißt, die Leinwand ist automatisch schon eine Über-Wirklichkeit oder etwas anderes....

E. R.: …etwas total Verfremdetes…
F. K.: …durch die Absolutheit des Bildes auf der Leinwand eine Realität behauptet, die die andere Realität ausschaltet. Der, der da auf seinem Kinosessel sitzt, teilt nicht die gleiche Realität, die auf der Leinwand ist, und deswegen funktioniert es da auch anders. Das Filmbild auf der Bühne kann diese Absolutheit nicht behaupten, da es neben ihm noch eine andere Wirklichkeit gibt, die des lebendigen Schauspielers.

E. R.: Was hast Du jetzt vor?
F. K.: Im Herbst werde ich einen Workshop für Regie und Kamera in der lettischen Hauptstadt Riga veranstalten. Die Studenten werden zwei Monate mit meiner Hilfe durch den gesamten Prozeß der Realisierung eines Films gehen, von der ersten Idee über das Aufschreiben der Ideen, Drehen, Schneiden, Vertonen, bis zum fertigen Film und zur Analyse des fertigen Films, um unter Umständen rauszubekommen, warum der fertige Film so anders aussieht als die Idee, die man hatte, und was eigentlich auf dem Weg dahin geschehen ist.

E. R.: Du machst also jetzt mit den Studenten in Riga Ähnliches wie sonst in Barcelona.
F. K.: Genau. Das ist ein bißchen schwieriger, weil die technischen Möglichkeiten wesentlich reduzierter sind als das zum Beispiel in Barcelona oder in Genf der Fall ist, wo es eine gute Ausrüstung gibt.

E. R.: Aber vielleicht ist es auf der anderen Seite weniger schwierig, weil die Leute etwas auf der Seele haben und stark motiviert sind, etwas auszudrücken.
F. K.: Ich habe diesen Workshop gemeinsam mit dem Goethe-Institut in Riga initiiert und es ist der sehr engagierten Leiterin, Frau Sabine Belz, gelungen, so viel Geld dafür aufzutreiben, dass wir Geräte anschaffen können und die Arbeit stattfinden kann.
Ich denke, daß bei den Studenten, die ich letzte Woche auch traf, eine große Sehnsucht da ist und eine große Leidenschaft, tatsächlich zu arbeiten und zwei Monate Zeit und Kraft zu investieren, um etwas zu erzählen. Ich hoffe, daß bei zwölf Studenten zwölf notwendige Filme entstehen, die dann auch erkennen lassen, daß es ihnen wichtig war, diese Filme gedreht zu haben, und daß sie das nicht einfach nur so taten, weil der Papa die Studiengebühren bezahlt.

E. R.: Müssen sie für das Studium bezahlen?
F. K.: Sie müssen bezahlen, und zum Teil arbeiten sie auch dafür, die meisten beim Fernsehen, als Cutter oder als Assistenten, um das Geld für das Studium zu verdienen. Manche haben auch einen Hintergrund in der Familie, eine Mutter oder einen Vater, die aus dem Filmbereich kommen.

E. R.: In Lettland gibt es eine berühmte Dokumentarfilmschule, einer ihrer bedeutenden Vertreter ist Herz Frank. – Ich finde gut, daß Du das machst, und für die Leute ist es bestimmt produktiv. Aber natürlich würde ich es auch wichtig finden, wenn Du wieder einen Film machst.
F. K.: Das schließt sich doch nicht aus. Ich habe ja nicht gesagt, daß ich keinen Film mehr drehen werde. Es gibt viele Ideen für Filme, die ich gerne drehen würde. Arbeit für den Rest meines Lebens. Aber es dauert einfach verdammt lange, bis man das Geld für einen Film zusammen hat.
Ich finde, daß das, was ich in Riga tun werde, eine wichtige, notwendige und sinnvolle Arbeit ist, auf die ich mich auch sehr freue. Weil ich das Gefühl habe, daß das wirklich Menschen nützt, und daß sie Lust darauf haben. Ich kann mir vorstellen, daß diese zwei bis drei Monate mit den Studenten eine sehr schöne Zeit wird. Das kommt ihnen auch längerfristig praktisch zugute, da die Geräte, die für die Arbeit besorgt werden müssen, Kameras, Tonequipment, vielleicht sogar Schnittcomputer, der Akademie anschließend überlassen werden. Das sind also nicht nur zwei Monate Arbeit, die dann vergangen sind, sondern die Studenten werden weiter mit diesen Geräten arbeiten können. Das ist für mich eine sinnvolle Sache. Ich glaube einfach an den direkten Effekt dieser Arbeit, und das ist etwas sehr Schönes. Aber natürlich will ich auch meinen nächsten Film drehen.

E. R.: Was wird das sein? "Die eiserne Stadt"? "Landschaft mit Wölfen"?
F. K.: Da beide sehr unterschiedlich sind, auch vom finanziellen Aufwand her, ist die Frage, welcher zuerst zu finanzieren ist. Es hängt immer am Geld, nicht an meiner Lust zu arbeiten.
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Dieses Gespräch wurde am 7. 11. 2001, am 25. 2. 2002 und am 26. 6. 2002 in Berlin geführt.